Die ischiocrurale Muskulatur
K. Wiemann
(aus: Carl, K., Quade, K., Stehle, P. (Hrsg.): Krafttraining in der sportwissenschaftlichen Forschung. Bundesinstitut für Sportwissenschaft; Köln 1995; S. 84 – 119)
ischmus.titel
Inhalt:
1. Anlass zur Projektierung
2. Untersuchte muskuläre Parameter und ihre Definition
3. Funktion der ischiocruralen Muskeln beim Sprint
4. Kraft- und Dehnungstraining der ischiocruralen Muskeln zur Verbesserung der Sprintleistung
5. Beeinflussung muskulärer Parameter der ischiocruralen Muskeln durch Dehnbelastung
6. Kraftbelastung der ischiocruralen Muskeln – Auswirkungen auf die Dehnfähigkeit und verwandte Parameter
7. Literatur

1. ANLASS ZUR PROJEKTIERUNG

Nachdem WASER (1985) aufzeigte, daß zur Erzeugung der Vorwärtsgeschwindigkeit beim Lauf die Streckbewegung des Kniegelenkes von untergeordneter Bedeutung ist, und annahm, daß die Horizontalbeschleunigung in erster Linie durch die Hüftstreckbewegung erreicht würde (SOULEK zeigte 1982 einen Zusammenhang zwischen der Kraft der Hüftstreckmuskeln und der Geschwindigkeit beim 60 m-Sprint auf), wurde von uns eine elektromyographische Untersuchung durchgeführt, deren Ergebnis zu der Annahme Anlaß gab, daß bei der Stützphase des Laufes die ischiocrurale Muskulatur diejenige Hüftstreckmuskulatur darstellt, die vorwiegend die Horizontalbeschleunigung beim Lauf erzeugt (WIEMANN 1986). Da die Beschleunigungsarbeit der ischiocruralen Muskulatur beim Lauf in einem Hüftwinkelbereich durchzuführen ist, der nahe an der Hüftstreckgrenze lieg wurde vermutet, daß „kürzere“ ischiocrurale Muskeln eher zu einer ökonomischen Beschleunigungsarbeit beim Sprint in der Lage sind als durch übertriebenes Dehnungstraining „verlängerte“ Muskeln (Zur Zeit der Projektierung galt in der Trainingslehre noch der Wirkungszusammenhang: Dehnen „verlängert“ die Muskeln, was später von uns widerlegt wurde, s. WIEMANN 1991). Beobachtungen in der Sportpraxis können diese Vermutung stützen. Aus dieser Vermutung leiteten wir die Empfehlung ab, zur Förderung der Erzeugung einer großen Sprintgeschwindigkeit die ischiocruralen Muskeln zu kräftigen und durch geringe Dehnungsübungen in einem eher „kurzen“ Zustand zu halten (WIEMANN 1985). Dies fordert TIHANYI (1987) in ähnlichem Sinn auch für den M. quadriceps bei Springern. Gegen unsere Annahme erhoben HERTER (1986) und MAEHL (1987) Einwände mit dem Hinweis auf das übliche intensive Dehnungstraining vieler Sprinter und auf die Gefahr einer muskulären Dysbalance. Diese Gegenargumente sind jedoch nicht uneingeschränkt zu akzeptieren. Es scheinen keine verläßlichen Befunde vorzuliegen, welches Maß an Dehnfähigkeit tatsächlich für den Sprint von Nutzen ist. Ebenso muß die arthromuskuläre Balance bzgl. Kraft und Länge von Antagonisten eher als ein durch Beobachtung pathologischer Fälle gewonnenes hypothetisches Konstrukt für Gesunde angesehen werden. Es scheint demnach unbedingt erforderlich, die Abhängigkeit des Kraftniveaus von der ‚Länge‘ der ischiocruralen Muskeln (Aus dem Vorangegangenen geht hervor, dass es sich hier ausschließlich um die funktionelle Länge des Muskels handeln kann!) allgemein exakter zu ermitteln, speziell die optimalen Werte für den Sprint zu erforschen.

Die aus diesen Überlegungen erwachsenen in den Förderungsjahren 1988-1991 durchgeführten Projekte konzentrierten sich auf folgende Schwerpunkte:

– Definitorische Abgrenzung und experimentelle Überprüfung muskulärer Parameter wie Muskellänge, Ruhespannung, Dehnfähigkeit, arthromuskuläres Gleichgewicht

– Modellanalytische Bestimmung der Funktion der ischiocruralen Muskeln beim Sprint

– Abhängigkeit der Sprintgeschwindigkeit von Dehnungsgrad, Länge und Kraft der ischiocruralen Muskeln sowie die Beeinflussung der Sprintgeschwindigkeit durch Kraft- und Dehnungstraining

– Abhängigkeit der Dehnfähigkeit der ischiocruralen Muskeln von Kraft- und Dehnungsbelastungen.

2. UNTERSUCHTE MUSKULÄRE PARAMETER UND IHRE DEFINITION

Dehnfähigkeit
Als Dehnfähigkeit der ischiocruralen Muskeln wird die Eigenschaft der Muskeln verstanden, eine große Gelenkreichweite (ROM bzw. HBW) im Laufe einer mit gestrecktem Knie durchgeführten Hüftbeugebewegung zuzulassen.
An einem eigens für die Aufgabenstellung gebauten Versuchsstand (Abb. 1 u. 2) wird die Vp in Rückenlage festgeschnallt, die Hüftgelenkachse in Deckung mit der Drehachse des Gerätes gebracht, das Kreuzbein zur Vermeidung von Ausweichbewegungen auf einem ‚Beckenkeil“ fixiert. Das rechte Bein der Vp wird in gestreckter Position auf einen ‚Waagebalken“ gelegt und mit einer Sperre gegen ein unwillkürliches Kniebeugen gesichert. Durch verschiebbare Gegengewichte läßt sich die Gewichtskraft des Beines eliminieren. Durch Anheben des ‚Waagebalkens‘ wird das Versuchsbein zügig in eine Hüftbeugestellung bis zum Auftreten eines noch erträglichen Spannungsgefühls geführt. Ein in der Drehachse befindliches Hochleistungspotentiometer registriert den Verlauf des Hüftbeugewinkels (HBW, ROM) als Maß für die Dehnfähigkeit der ischiocruralen Muskeln.

Abb. 1: Meßstation zur Bestimmung der isometrischen Maximalkraft der ischiocruralen Muskeln. Bg Beckengurt. Bp Bohrung für Positionseinstellung. Bs Befestigungssplint. Bs Arretierungsbolzen. Ds Drehschenkel. El Einschubleiste. Fs Feststellschrauben. KmB Kraftmeßbalken mit DMS. KMS Kraftmeßschlitten. Ks Kopfstütze. 0g Oberschenkelgurt. P Potentiometer. Vs Verschiebeschlitze für die Zerrgurte. Rechts: Drei der zehn Testpositionen, s. Tab. 1

ischmu.a.1

Muskel-Ruhespannung
Im folgenden wird als Ruhespannung der ischiocruralen Muskeln diejenige Spannung gewertet, die die willkürlich inaktive Muskulatur dem Dehnungsvorgang entgegensetzt.
Die senkrecht zum „Waagebalken“ gerichtete Komponente derjenigen Kraft, die benötigt wird, um mit Hilfe einer Schlaufe die Hüftbeugeprozedur durchzuführen (Abb. 2), wird Mittels DMS-Technik registriert. Da aufgrund der Ausschaltung der Gewichtskraft die registrierte Kraft die Gegenkraft zu derjenigen Spannung, die der Muskel der Dehnungs-Prozedur entgegensetzt, darstellt, kann diese Kraft als Ruhespannung im definierten Sinn gewertet werden. Sie wird im 70°-Winkel der Dehnprozedur bestimmt (T70) und im folgenden jeweils in der registrierten Größe angegeben und aufgrund des konstanten Kraftarms nicht in Drehmomente und nur zu Demonstrationszwecken in Sehnenspannungen (Abb. 10) umgerechnet.

Abb. 2: Meßstation mit Dehnungswaage. Ag Achse mit Potentiometer. BK Beckenkeil. Gv Gewicht, verschiebbar. Md Meßstelle mit DMS. Oa Oberschenkelauflage, längen- und höhenverstellbar. OK Oberschenkelkeil. Wa Wadenauflage, längen- und höhenverstellbar
ischmu.a.2

Dehnbelastungefähigkeit
Die Dehnbelastungsfähigkeit ergibt sich aus der maximalen Dehnungsspannung (Tmax, rSp), die die Muskulatur (bzw. die Vp) im Laufe einer Dehnungsprozedur zu ertragen bereit ist (Registrierung und Dimensionierung wie vorn).

Reflexaktivität
Die während der Dehnungsprozedur auftretenden Dehnungsreflexe werden durch Oberflächenelektroden auf der Mitte des Muskelbauches der ischlocruralen Muskeln erfaßt, gleichgerichtet und digitalisiert gespeichert und in Prozent des MIVC-EMGs umgerechnet. Sie wird während der letzten 20° der Dehnprozedur vor erreichen des maximalen Hüftbeugewinkels gemessen (EMGmax). Aufgefangen im 70°-Winkel der Dehnprozedur dient sie als Maß für die Entspannungsfähigkeit (EMG70).

Kontraktionskraft
Die Kraft der maximalen isometrischen Willkürkontraktion (MIVC) wird am oben angesprochenen Versuchsstand (Abb. 1) in zehn verschiedenen Hüftwinkelstellungen bei rechtwinkligem Kniegelenk bestimmt. Tabelle 1 gibt die Testpositionen, die zugehörigen Muskel- und Faserdehnungszustände und den Faserdehnungsgrad, berechnet nach dem in Kap. 3 beschriebenen Modell, wieder. Zusätzlich wird in einem mittleren Muskeldehnungszustand das EMG einer MIVC registriert, um als Bezugswert zur Quantifizierung der Reflexaktivität während der Dehnungsprozedur zu dienen. Der registrierte Kraftwert wird um den in den verschiedenen Testpositionen unterschiedlichen Anteil des Beingewichtes reduziert und zum Köpergewicht jeder Vp in Relation gesetzt (rK), im folgenden aus den oben genannten Gründen nicht in Drehmomente umgerechnet.

Tabelle 1: Ausprägung des Hüftwinkels (a) und verschiedener Parameter des M. biceps femoris caput longum (b-d) in den 10 Testpositionen der Meßstation (s. Abb. 1)
ischmu.t.1Mediallänge
Als Mediallänge kann diejenige Muskel- bzw. Fasermomentanlänge gelten, in der die betreffende Vp die maximale MIVC-Kraft entwickelt. Im Zusammenhang mit den zugehörigen Gelenkwinkeln (hier speziell mit dem Hüftgelenkwinkel, da der Kniegelenkwinkel konstant gehalten wird) kann eine Aussage über die (funktionelle) Muskellänge geliefert werden. Die im folgenden verwendeten Termini „lange Muskeln“ und „kurze Muskeln“ beziehen sich stets auf diesen Parameter, nicht aber auf etwaige Unterschiede in der Dehnfähigkeit.

Explosivkraft
Die Vp erhält die Aufgabe, in einer mittleren Hüftwinkelstellung am oben beschriebenen Gerät eine möglichst explosive MIVC auszuführen. Als Explosivkraftwert wird die Steigung der Kraft-Zeit-Kurve zwischen dem 25 %- und 75 %-Niveau des Kraftmaximums ermittelt.

Electro-mechanical delay (EMD)
Das während der Erzeugung der Explosivkraft registrierte integrierte gleichgerichtete EMG wird durch gleitende Mittelwertsbildung geglättet. Der Zeitabstand der Maxima der zweiten Ableitung der geglätteten EMG-Kurve und der Explosivkraftkurve dient als EMD-Wert.

Faserlänge
An 11 konservierten Leichen wurden die Faserlängen der ischiocruralen Muskeln gemessen und mit Angaben in der Literatur verglichen. Die errechneten Mittelwerte stellen die Bezugsgrößen zur Errechnung des Dehnungsgrades der ischiocruralen Muskeln in den einzelnen Gelenkwinkelstellungen dar (s. WIEMANN, 1991 b [download] pdf-Datei).

Meßgenauigkeit und ReliabIlität
Die Meßgenauigkeit des Versuchsstandes wurde wie folgt festgestellt:
Bei wiederholter Anpassung der Hüftgelenkachse der Vp an die Potentiometerachse wird bei einem vorgegebenen Meßwinkel von 40° ein Meßfehler von 1,5 % (bzw. bei vorgegebenem Meßwinkel von 140° ein Meßfehler von 0,44 %) produziert.

Die Abweichung des Kraftmeßbalkens von der Linearität beträgt bei einem Kraftanstieg von jeweils 0,1 kg ±0,15 %. Der Kraftmeßbalken lieferte bei Wiederholungsmessungen mit einem genormten 10 kg-Gewicht eine Meßgenauigkeit von ±0,51 % je nach Angriffspunkt des Gewichtes am Meßbalken und je nach Winkelstellung des Drehschenkels.

Die Linearität der Spannungsmessung des Dehnungsvorganges entspricht derjenigen des Kraftmeßbalkens. Hier beträgt die Meßgenauigkeit bei Wiederholungsspannung ±0,34 %.

Die Reliabilität in der Quantifizierung der verwendeten Parameter leidet besonders bei denjenigen Größen, deren Ausprägung von der subjektiven Befindlichkeit der Vpn abhängig ist, etwa durch die Motivation zur Erzeugung maximaler Willkürkontraktionen oder durch die Bereitschaft, Dehnungsschmerz zu ertragen. Bei Parametern, die ohne die Gefahr von Serieneffekten eine Testwiederholung zuließen, werden folgende Reliabilitätskoeffizienten ermittelt:

Dehnungsspannung in mittleren Dehnbereichen: rtt = 0,8691

maximaler Hüftbeugewinkel: rtt = 0,9623

maximale Kontraktionskraft:
in entdehnter Position: rtt = 0,6494
in mittlerer Dehnposition: rtt = 0,9694
in gedehnter Position: rtt = 0,9335
maximale Dehnungsspannung: rtt = 0,8965

EMG der letzten 10° der Dehnungsprozedur: rtt = 0,9298

Explosivkraft: rtt = 0,8575

elektromechanische Verzögerung: rtt = 0,6570.

Die nicht annehmbare Reliabilität in der Bestimmung der Kontraktionskraft in entdehnter Position kann auf individuelle Befindlichkeiten (z.B. gelegentliche Krämpfe) zurückgeführt werden. Diese Daten werden nur für die Dokumentation der Kraft-Längen-Kurven, nicht für statistische Berechnungen benutzt. Aufgrund der nicht annehmbaren Reliabilität in der Bestimmung der elektromechanischen Verzögerung wurde auf die weitere Auswertung dieser Kenngröße verzichtet.

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3. FUNKTION DER ISCHIOCRURALEN MUSKELN BEIM SPRINT

Im Hinblick auf die Sprinttechnik wird in jüngster Zeit vornehmlich die Aufgabe der zweigelenkigen Muskeln der Oberschenkel- und Unterschenkelrückseite hinterfragt und ihre Bedeutung für die Erzeugung des Vortriebs diskutiert. Zweigelenkigen Muskeln wird in verallgemeinernden Darstellungen eine solche Wirkung auf die beteiligten Gelenke beigemessen, die auch eingelenkige Muskeln haben würden, wenn sie aus der gleichen Richtung und auf derselben Seite des betroffenen Gelenkes wirken würden. Trifft jedoch das freie Ende einer zweigliedrigen kinematischen Kette, über die der zweigelenkige Muskel hinwegzieht, auf einen äußeren Widerstand, kann der Muskel unter noch aufzuzeigenden Bedingungen eine den Erwartungen entgegengerichtete Wirkung ausüben. Dieses offensichtlich paradoxe Phänomen wurde von LOMBARD 1903 beschrieben – deshalb die Bezeichnung LOMBARDsches Paradoxon – und seit dieser Zeit vielfach untersucht, speziell am Beispiel der Beinbewegung beim Radfahren (ANDREWS 1987; CARLSÖO & MOLBECH 1966; FISCHER 1927; MOLBECH 1965). (s. dazu WIEMANN 1991 (pdf-Datei))

Allerdings ist zu vermuten, daß paradoxe Muskel-Aktivitäten auch beim Sprint auftreten, speziell im Hinblick auf die Funktion der ischiocruralen Muskeln und des Zwillingswadenmuskels, die bekanntlich zweigelenkig sind.

3.1 Methode

Um die Wirkungsweise der ischiocruralen Muskeln sowie der Wadenmuskeln (M.gastrocnemius) auf die beteiligten Gelenke im Laufe der Stützphase demonstrieren zu können, konstruierten wir ein Hebelmodell, das in Abbildung 3 schematisch dargestellt ist. Die Dimensionen wurden nach umfangreichen Vergleichen von Röntgenaufnahmen und nach anthropometrischen Erhebungen an elf konservierten Leichen festgelegt.
Bringt man das Fußgelenk in eine Position wie sie dem Mittelstütz des Sprints entspricht, erkennt man neben einer Hüftstreckung auch eine Kniestreckung (Abb. 3), bedingt durch den Gummizug, der die ischiocruralen Muskeln darstellt. Das bedeutet: Unter der Bedingung der geschlossenen kinematischen Kette wirkt die ischiocrurale Muskulatur nicht kniebeugend, sondern kniestreckend. Das gilt In gleichem Maße auch für Positionen im Bereich des Vorderstützes (Abb. 3c) und des Hinterstützes und ebenfalls für einen Gummizug, der die Wadenmuskulatur darstellt (Abb. 3d).

Abb. 3: Hebelmodell zur Demonstration der Wirkung der ischiocruralen Muskeln (1), der Kniestrecker (v) und des Zwillingswadenmuskels (g) in der Stützphase des Sprints. GS Gleitschiene
lompa2Fixiert man am Modell das Hüftgelenk und bringt man das Modell in eine Position, die dem Vorderstütz entspricht, zieht der Gummizug der ischiocruralen Muskeln das Bein nach hinten (Abb. 3e). Die Reibung des Fußes auf der Bodenleiste genügt als Führung, um im Kniegelenk eine streckende Wirkung zu erzeugen. Erst wenn die Reibung gegen Ende der Stützphase nachläßt, wird das Kniegelenk gebeugt.

Abb. 4: Modell zur Bestimmung der Muskellänge und Kniewirkung der ischlocruralen Muskeln im Mittelstütz des Sprint
Konstante Größen (Längenangaben in % Körpergröße):
Abstand HH‘ …………………………………………….h = 2,2
Radius H’U ………………………………………………. i = 2,4
Abstand SB (Sprunggelenk-Fußballen) … f = 9,5
Konstante Winkel s. Abbildung! Unabhängige Variable: Kniewinkel (KW). Abhängige Variablen: Die Beträge von o, k, u und ae werden grafisch bestimmt und in den folgenden Formeln in Abhängigkeit vom jeweiligen Kniewlnkel eingesetzt. Die Variablen c und folgende sind für die drei untersuchten Muskeln gesondert zu berechnen.
ischmu.a.4Um die Ergebnisse der Beobachtungen des Modells zu überprüfen, erstellten wir ein mathematisches Programm (Abb. 4), das es erlaubt, die Veränderung der Länge der ischiocruralen Muskeln während eines Sprintzyklus zu bestimmen, und das auf der Grundlage der Vektorenzerlegung berechnet, in welcher Kniewinkelposition beim Sprint die kniebeugende Wirkung der ischiocruralen Muskeln in eine kniestreckende Wirkung übergeht (WIEMANN 1991b).

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3.2 Ergebnisse

Abb. 5 zeigt die Knie- und Hüftwinkeländerungen eines Sprintzyklus von M. GÖHR sowie die Längenänderung der ischiocruralen Muskeln. Man erkennt eine kontinuierliche Verkürzung der ischiocruralen Muskeln während der Stützphase, auch in der Phase des Hinterstützes, in der sich das Kniegelenk streckt. Aus elektromyographischen Untersuchungen muß man unter Berücksichtigung einer elektromechanischen Verzögerung von 50-90 ms annehmen, daß die ischiccruralen Muskeln während der gesamten Stützphase Kontraktionskraft freisetzen, was bedeutet, daß die Aktivität der Muskeln in der Phase des Hinterstützes bezogen auf das Kniegelenk als paradox anzusehen ist.

Abb. 5: Diagramm des Kniewinkels (KW), des Hüftwinkels (HW) und der Länge der ischiocruralen Muskeln (bif; rechte Ordinate: Prozent Körpergröße) im Laufe eines Sprintzyklus. EMG: Aktivität der ischiocruralen Muskeln einer Stützphase (gestreift: paradoxe Aktivität im Kniegelenk). Abszisse: Phasen des Sprintzyklus
ischmu.a.5
Ob nun die Kniestreckung tatsächlich auch durch die ischiocruralen Muskeln bewirkt werden kann (und nicht nur ausschließlich auf der Aktivität des M. vastus beruht), wird durch die Zerlegung des Kraftvektors der ischiocruralen Muskeln in eine Gelenkkomponente und eine Kontaktpunktkomponente nachgeprüft. Weist die Kontaktpunktkomponente abwärts, muß sie als kniestreckend, im anderen Fall als kniebeugend gelten. Es lassen sich nun für alle möglichen Knie- und Hüftwinkel Kenngrößen berechnen, die über die Wirkung der ischiocruralen Muskeln Auskunft geben. Dies ergibt, daß während des Vorder- und Mittelstützes und im ersten Teil des Hinterstützes die geometrischen Bedingungen erfüllt sind, die als Voraussetzung für eine kniestreckende Wirkung der ischiocruralen Muskeln gelten. Erst gegen Ende des Hinterstüzes wird der Effekt der ischiocruralen Muskeln ein kniebeugender. An dieser Stelle kann nun der M. gastrocnemius mit seiner paradoxen kniestreckenden Funktion die ischiocruralen Muskeln ablösen (WIEMANN 1991b [download] pdf-Datei).

Daraus resultiert die Forderung an die Sprinttechnik, möglichst die gesamte Stützphase zur Horizontalbeschleunigung auszunutzen, indem durch eine ziehende oder besser bürstende Aktion des Stützbeines – beginnend möglichst schon vor dem Stützfassen – das Stützbein unter dem Körper hindurch nach hinten geschlagen wird. Um diese Aktion, die in erster Linie durch die ischiocruralen Muskeln verursacht wird, zu optimieren, sollten die Schwungelemente des Körpers, der Schwungbeinoberschenkel sowie der Arm der Stützbeinseite gegenläufig mit hoher horizontaler Geschwindigkeit in Laufrichtung geschwungen werden.

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4. KRAFT- UND DEHNUNGSTRAINING DER ISCHIOCRURALEN MUSKELN
ZUR VERBESSERUNG DER SPRINTLEISTUNG

4.1 Zielsetzung
Für den Sprint läßt die funktional-anatomische Analyse vermuten, daß die ischiocruralen Muskeln einen bedeutenderen Einfluß auf die Erzeugung der Sprintgeschwindigkeit ausüben als bisher angenommen und daß die diesbezüglichen Aufgaben der Kniestreckmuskeln (Mm. vasti) bisher überbewertet wurden. Da die Aufgabe der Sprintbeschleunigung in einem eher entdehnten Zustand der ischiocruralen Muskeln zu leisten ist, muß angenommen werden, daß die Sprintleistung mit der Kraft der ischiocruralen Muskeln positiv, mit der Länge der ischiocruralen Muskeln jedoch negativ korreliert.

Ein Krafttraining für die ischiocruralen Muskeln müßte demnach mit einem Anstieg der Sprintgeschwindigkeit gekoppelt sein. Ist es richtig, daß – wie (zur Zeit der Projektierung noch) allgemein angenommen wird – ein Dehnungstraining die Muskulatur verlängert, dürfte von einem Dehnungstraining kein positiver Effekt auf die Sprintleistung erwartet werden.

4.2 Methoden
Zur Überprüfung dieser Vermutungen wurden a) eine Erhebung zur Situation von Kraft, Länge und Dehnfähigkeit der ischiocruralen Muskeln bei 102 Studenten, 98 Liga-Fußballern und 73 Sprintern und b) ein Trainingsexperiment mit 42 Studenten durchgeführt. Dazu wurden neben diversen personenbezogenen Daten folgende Variablen erhoben:
1. Die Kraft (relativ zum Körpergewicht) der ischiocruralen Muskeln in acht unterschiedlichen Dehnungszuständen (rK 1 bis rK 8). Als Parameter dient der Mittelwert aus den 8 Positionen (rKmw) sowie der in den 8 Positionen erreichte Maximalwert (rKmax).
2. die Länge der ischiocruralen Muskeln anhand derjenigen Testposition (P1 bis P8; s. Tab. 1, jedoch ohne die Positionen 3a, 4a und 5a), in der die Vp das Kraftmaximum erreicht (rKmax),
3. die Dehnfähigkeit der ischiocruralen Muskeln (HBW bzw. ROM; s. vorn),
4. die Dehnbelastungsfähigkeit (rSp bzw. Tmax; s. vorn).
5. Aus der Kraft-Längen-Beziehung wurde ein Elongationsfaktor bestimmt, der über unterschiedliche Faserlängen und/oder unterschiedliche Stiffness der serienelastischen Elemente der ischiocruralen Muskeln Auskunft gibt.
6. Die Sprintgeschwindigkeit (Zmin: schnellster Sprint; Zmw: Mittelwert der drei Wiederholungen) ergab sich aus einem Sprint über 25m aus aufrechter Startposition, wobei die Zeit per Infrarot-Lichtschranken zwischen der 5 m- und der 25 m-Marke gemessen wurde.

Abb. 6: Krafttraining für die ischiocruralen Muskeln, links: im entdehnten Zustand; rechts: im gedehnten Zustand. links: Arbeitsbereich in einem Dehnungsgrad etwa zwischen 60 % und 65 % Mediallänge. rechts: Arbeitsbereich in einem Dehnungsgrad etwa zwischen 105 % bis 115 % Mediallänge
ischmu.a.6
Zum Trainingsexperiment wurden die Vpn in fünf Gruppen geteilt, die über zehn Wochen dreimal wöchentlich folgendes Training absolvierten:
1. Gruppe: Krafttraining für die ischlocruralen Muskeln im entdehnten Bereich (Ke; s. Abb. 6 links; n=8).
2. Gruppe: Krafttraining für die ischiocruralen Muskeln im gedehnten Bereich (Kg; s. Abb. 6 rechts; n=6).
3. Gruppe: Dehnungstraining für die ischiocruralen Muskeln mit dynamischen und statisch-passiven Dehnübungen (D; n=8).
4. Gruppe: Wie Gruppe 1, jedoch mit Dehnungstraining wie Gruppe 3 (Ked; n=10).
5. Gruppe: Wie Gruppe 2, jedoch mit Dehnungstraining wie Gruppe 3 (Kgd; n=9).

Das Krafttraining bestand aus einem Muskelaufbautraining in drei Sätzen (2 min Pause) und zehn Wiederholungen mit rund 40-60 % der Maximalbelastung an zwei unterschiedlichen Beinbeugemaschinen (s. Abb. 6). Das Dehnungstraining umfaßte sowohl dynamische als auch aktiv-statische und passiv- statische Übungsformen in drei Sätzen zu 1 min und jeweils 2 min Pause.

4.3 Ergebnisse
Die Erhebung bei Studenten, Fußballern und Sprintern ergab folgende Befunde:

Tabelle 2: Maximalkraft (rKmax), Hüftbeugewinkel (HBW), maximal ertragene Dehnungsspannung (rSp) und 20 m-Sprintzeit in unterschiedlichen Stichproben
ischmu.t.21. Die Sprinter zeigen sowohl die größte Kraft (rKmax) der ischiocruralen Muskeln, als auch die größten Hüftbeugewinkel (HBW), ertragen die größte Dehnungsspannung (rSp) und besitzen die schnellsten Sprintzeiten (Zmin, s. Tab. 2).
2. Die Sprinter tendieren insgesamt zu längeren ischiocruralen Muskeln als die Fußballer und Studenten (d.h. sie sind in den Gruppen mit langen ischiocruralen Muskeln häufiger vertreten), während die Fußballer in der Gruppe mit den kurzen Muskeln häufiger vertreten sind als die Sprinter und Studenten.
3. In der Gruppe der Sprinter zeigt sich ein negativer Zusammenhang zwischen einem relativen Kraftwert der ischiocruralen Muskeln und der Sprintzelt (r= -0,3425; p=0,007), d.h. je kräftiger die ischiocruralen Muskeln in Relation zum Körpergewicht sind, desto schneller ist der 20 m-Sprint (und auch der 100 m-Sprint, Tab. 3).
4. Teilt man die untersuchten Personen in drei bzw. vier Gruppen unterschiedlicher Muskellänge, steigen die Sprintzeiten mit der Muskellänge (s. Tab. 3), d.h., Sportler mit kürzeren ischiocruralen Muskeln zeigen höhere Sprintleistungen.
5. Teilt man die Sprinter in zwei Gruppen mit unterschiedlich ausgeprägtem Elongationsfaktor, zeigt die Gruppe mit hohem Faktor (was entweder auf kurze Fasern oder auf eine hohe Stiffness der elastischen Elemente hinweist) eine bessere Sprintleistung (s. Tab. 3). Kombiniert mit der Muskellänge ist die Gruppe mit kurzen Muskeln und hohem Elongationsfaktor auf der 20m-Sprintstrecke um 0,11s schneller als die Gruppe mit langen Muskeln und niedrigem Elongationsfaktor.

Tabelle 3: 20 m-Sprintzeiten und 100m-Sprintzeiten in Gruppen unterschiedlicher Muskellänge
ischmu.t.3
Das Experiment über die Wirkung verschiedener Trainingsmaßnahmen für die ischiocruralen Muskeln auf die Sprintleistung und auf die für die Sprintleistung maßgeblichen Parameter lieferte folgende Ergebnisse:

Tabelle 4: Zunahme der über acht Testpositionen gemittelten Kraft (rKmw) und der Maximalkraft (rKmax) der ischiocruralen Muskeln in fünf unterschiedlichen Trainingsgruppen (s. Text). Gruppenumfänge s. oben!
ischmu.t.4

1. Alle Trainingsgruppen zeigten eine signifikante Zunahme des Kraftmaximums, aber nur die Gruppen Ke, Kg, Kgd einen Zuwachs der über die acht Testpositionen gemittelten Kraft (rKmw). Die Kraftzuwächse (Tab. 4) unterscheiden sich nicht signifikant zwischen den Gruppen. (Zu beachten ist der Kraftzuwachs (rKmw) in der reinen Dehntrainingsgruppe (D), eine Tendenz, die nach weiteren Untersuchungen verlangt. s. auch unten!).
2. Die Dehnfähigkeit der ischiocruralen Muskeln verbesserte sich nur in den Gruppen, die ein Dehnungstraining durchführten (Ked, Kgd, und D), d.h. der Hüftbeugewinkel steigerte sich vom Vortest (VT) zum Nachtest (NT) um durchschnittlich 18% (Tab. 5). Dieser Zuwachs unterscheidet sich nicht zwischen diesen Gruppen. Die Dehnfähigkeit in den reinen Krafttrainingsgruppen (Ke, Kg) bleibt unbeeinflußt.

Tabelle 5: Hüftbeugewinkel (HBW) vor (VT) und nach (NT) einem zehnwöchigen Training in fünf unterschiedlichen Gruppen (s. Text). Gruppenumfänge s. oben!
ischmu.t.53. Die in der Dehnungsprozedur ausgehaltene Dehnungsspannung stieg jedoch in allen Gruppen an, und zwar mit Ausnahme der Gruppe Kg signifikant (Tab. 6) und in den Gruppen mit Dehnungstraining (Ked, Kgd und D) signifikant mehr als in den reinen Krafttrainingsgruppen (Ke, Kg).

Tabelle 6: Maximale beim Hüftbeugetest ertragene Dehnungsspannung (e) vor (VT) und nach (NT) einem zehnwöchigen Training in fünf unterschiedlichen Gruppen (s. Text). Gruppenumfänge s. oben!
ischmu.t.64. Insgesamt verbesserte sich die Sprintleistung geringfügig, jedoch nur in der Gruppe mit reinem Krafttraining (KeKg) signifikant bei einseitiger Fragestellung (Tab. 7).

Tabelle 7: 20m-Sprintzeit (Zmin) vor (VT) und nach (VT) einem 10wöchigen Training in 5 unterschiedlichen Gruppen (s. Text). Gruppenumfänge s. oben!
ischmu.t.75. Die Kraft der ischiocruralen Muskeln korreliert jedoch sowohl im Vortest als auch im Nachtest ‚ mit der Sprintleistung. Ebenso korreliert der Kraftzuwachs durch Training mit dem Sprintleistungszuwachs (Tab. 8).

Tabelle 8: Korrelation zwischen der Maximalkraft (rKmax) bzw. der über acht Testpositionen gemittelten Kraft (rKmw) der ischiocruralen Muskeln und der 20m-Sprintzeit (Zmin bzw. ZMw) und Korreiation zwischen Kraftzuwachs und Änderung der Sprintzelt bei 41 Vpn. Gruppenumfänge s. oben! ischmu.t.86. Es zeigte sich entsprechend der Erhebungen bei Sprintern, daß Vpn mit kurzen Muskeln sowohl im Vortest als auch im Nachtest höhere Sprintgeschwindigkeiten erbringen als Vpn mit langen Muskeln (Tab. 3).
7. Teilt man die Vpn der Krafttrainingsgruppen (Ke, Kg, Ked und Kgd) in zwei Gruppen mit kurzen bzw. langen Muskeln, ändert sich die Besetzung der Gruppen vom Vortest (19 bzw. 14) zum Nachtest (27 bzw. 6) signifikant (CHI-Quadrat = 4,59; p < 0,05, s. Tab. 11!). In der Dehnungstrainingsgruppe (D) zeigt sich keine Verschiebung bzgl. der Muskellänge. Dagegen verkleinert sich der Elongationsfaktor in der Dehnungstrainingsgruppe um 25 % (signifikant bei einseitiger Fragestellung; t = 2,14, p = 0,070).

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4.4 Diskussion und Schlußfolgerungen
Sowohl die Erhebung bei Studenten, Fußballern und Sprintern als auch das Trainingsexperitment zeigen einen Zusammenhang zwischen der Kraft der ischlocruralen Muskeln und der Sprintleistung. Die Einflußnahme der Kraft auf die Leistung erscheint mit 10-14% (= r²) je nach untersuchter Gruppe relativ deutlich. Allerdings könnte die Bedeutung dieses Einflusses besser beurteilt werden, wenn die entsprechende Wirkung anderer Muskelgruppen, etwa diejenige der Kniestrecker, zum Vergleich zur Verfügung stände. Ein solcher Vergleich, speziell die Bestimmung des optimalen Kraftverhältnisses zwischen ischiocruralen Muskeln und Kniestrecker müßte nachgeholt werden. Leider konnte aus organisatorischen Gründen nur eine Sprintstrecke von 25 m getestet werden. Es ist anzunehmen, daß die Bedeutung der ischlocruralen Muskeln für die Erzeugung des Vortriebes in der Startphase bzw. Beschleunigungsphase des Sprints nicht so hoch ist wie in späteren Abschnitten der Sprintstrecke.

Auch die Vermutungen über die Bedeutung der Muskellänge für die Sprintleistung müssen als bestätigt angesehen werden; denn sowohl die Fußballer und Sprinter als auch die Vpn der Trainingsgruppen zeigen in Vor- und Nachtest die gleiche Tendenz nämlich bei kurzen Muskeln bessere Sprintleistungen, wobei zumindest die Randgruppen sich signifikant unterscheiden. Aus dem Trainingsexperiment wird deutlich, daß das hier praktizierte Krafttraining zu einer Verkürzung der ischiocruralen Muskeln führt. Da die Sprintleistung sowohl von der Kraft, als auch von der Länge der ischiocruralen Muskeln abhängig ist, kann nicht entschieden werden, welchen Anteil der Kraftzuwachs und welchen Anteil die Muskelverkürzung an der diagnostizierten Steigerung der Sprintleistung in der Krafttrainingsgruppe (KeKg) hat.

Es kann ebenfalls nicht statistisch abgesichert werden, welche der beiden verwendeten Krafttrainingsarten (Ke oder Kg) eher zu einer Muskelverkürzung führt. Da jedoch in der Ke-Gruppe der Kraftzuwachs vornehmlich in entdehnten Bereichen auftritt, in der Kg-Gruppe aber eher in mittleren und gedehnten Bereichen, kann die Vermutung, das Ke-Training führe eher zu einer Muskelverkürzung, beibehalten werden.

Über die Natur der Muskelverkürzung konnten keine konkreten Befunde geliefert werden, außer der Feststellung der Verlagerung der Optimallänge in Bereiche kleinerer Ursprung-Ansatzdistanzen. Da eine Abnahme der Faserlänge (d.h. eine Reduzierung der in Serie geschalteten Sarkomere nicht plausibel erscheint, könnte dies allein auf ein Faserdickenwachstum und eine damit verbundenen Zunahme des Fiederungswinkels (s. Abb. 13b) zurückgeführt werden. Ob die damit verbundene Verschiebung der Optimallänge in Bereiche kürzerer Ursprung-Ansatz-Distanzen für die Erledigung der Alltagsmotorik von Nachteil ist, kann nicht entschieden werden. Möglicherweise benötigt ein anpassendes Längenwachstum der Muskelfasern durch Vermehrung der in Serie geschalteten Sarkomere und/oder der serienelastischen Elemente eine längere als die hier untersuchte Trainingsphase von 10 Wochen.

Daß sich das Dehnungstraining bzgl. des Kraftzuwachses ähnlich verhält wie das Krafttraining im entdehnten Zustand, mag in dem dynamischen Anteil des Dehnungstrainings begründet sein. Es sind nämlich hier reflektorische Kontraktionen- bedingt durch Spindeldehnung – zu vermuten, die möglicherweise für den Kraftzuwachs der Dehnungsgruppe verantwortlich zeichnen. Ob ein reines statisch- passives Dehnen ähnliche Effekte zeigt, wird weiter unten besprochen.

Obwohl auch das Dehnungstraining (D-Gruppe) zu einem Kraftzuwachs führte, wurde die Sprintleistung hier nicht verbessert. Dies mag primär durch eine Abnahme der Stiffness der serienelastischen Elemente begründet sein (die durch die Abnahme des Elongationsfaktors angedeutet wird), wodurch eine explosive Übertragung der Kontraktionskraft verschlechtert wird. Dies mag auch der Grund dafür sein, daß in der kombinierten Kraft-Dehnungstrainingsgruppe (Ked, Kgd) keine signifikante Verbesserung der Sprintleistung auftritt.

Für die Annahme einer Zunahme der Muskellänge durch Dehnmaßnahmen gibt es keinen Anlaß. Die muss in weiteren Erhebungen genauer untersucht werden.
Die Dehnfähigkeit der ischiocruralen Muskeln scheint keinen Einfluß auf die Sprintleistung zu haben. Bei den Erhebungen und dem Krafttrainingsexperiment scheint die Dehnfähigkeit weder von der Muskellänge noch von der Faserlänge abzuhängen, sondern allein von der äußeren Dehnungsspannung, die der Muskel bzw. die Vp zu ertragen bereit ist. Durch das Dehnungstraining wurde diese Toleranz gegenüber Dehnungsspannungen deutlich erhöht. Allerdings erhöhte auch das Krafttraining diese Toleranz, ohne jedoch die Dehnfähigkeit ansteigen zu lassen.

Diese Ergebnisse rechtfertigen eine gebührende Berücksichtigung eines Krafttrainings auch für die ischiocruralen Muskeln zur Verbesserung der Sprintleistung, sehen aber in der Anwendung eines intensiven Dehnungstrainings keinen besonderen Nutzen – die Verbesserung der Dehnfähigkeit ausgenommen.

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5. BEEINFLUSSUNG MUSKULÄRER PARAMETER DURCH SINGULÄRE, KURZZEITIGE UND LANGZEITIGE DEHNBELASTUNG DER ISCHIOCRURALEN MUSKELN

5.1 Vorbemerkung
Die primären Wirkungen, die man in der Regel Dehnungsübungen zuschreibt, sind 1. Entgegenwirken von Muskelverkürzungen (z.B. DIETRICH 1989; EDER 1988), 2. Beseitigung von Muskelhypertonie (z.B. BLUM 1989; HANAFI u.a. 1986) bzw. Verringerung von muskulären Verspannungen (z.B. ANDERSEN 1988), 3. Erweiterung der Bewegungsamplitude in den Gelenken (z.B. DIETRICH u.a. 1985; HANAFI u.a. 1986; MAEHL 1986), 4. Verletzungsprophylaxe (z.B. ETNYRE u.a. 1988; SHELLOCK u.a. 1985) bzw. Erhöhung der Belastungsverträglichkeit (z.B. HANAFI u.a.1986). Als sekundäres Ziel wird durch die Erfüllung dieser Ziele eine Steigerung der sportlichen Leistungsfähigkeit erwartet (z.B. BEAULIEU 1981; ETNYRE u.a. 1988; MAEHL 1986; SHELLOCK u.a. 1985). Bei der Suche nach empirischen Befunden, die Auskunft darüber geben könnten, ob und in welchem Ausmaß im lebenden Muskel des Menschen sich die genannten Effekte durch Dehnungsmaßnahmen verwirklichen lassen, stößt man auf zahlreiche Berichte über die Vergrößerung der Bewegungsreichweite durch unterschiedliche Dehnungsmaßnahmen, und zwar sowohl durch ein langfristiges Training (z.B. HARDY u.a. 1986; HEYTERS u.a. 1989; SADY u.a. 1982) als auch durch kurzfristig wiederholte oder gar singuläre Dehnungsprozeduren (z.B. HENRICSON u.a. 1984; HUBLEY u.a. 1984; MADDING u.a. 1987).
Allerdings konnten keine Berichte gefunden werden, die Auskunft über eine ‚Verlängerung‘ des Muskels (bzw. die Beseitigung einer Muskelverkürzung) durch Dehnungsmaßnahmen am Menschen gegeben hätten, und nur zwei Berichte finden eine Reduzierung der Dehnungsspannung durch Dehnungsmaßnahmen, nämlich beim M. soleus (TOFT et al. 1989) und bei den Adduktoren des Beines (MADDING et al. 1987). Es wurde deshalb neben anderen Zielen versucht festzustellen, ob sich neben der Erhöhung der Dehnfähigkeit (gemessen an der Vergrößerung der Bewegungsreichweite) auch andere Effekte eines langfristigen Dehnungstrainings am menschlichen Muskel in vivo nachweisen lassen.

Abb. 7: Hypothetische Veränderung (jeweils gestrichelte Kurve) im Ruhespannungs-Dehnungsdiagramm (a) und im Kraft-Längendiagramm (b – d). a) Abnahme der Ruhespannung. b) Faserverlängerung bei konstanter Muskellänge. c) Abnahme der Stiffness der serienelastischen Elemente. d) Längenzunahme. Ig Gleichgewichtslänge. Im Mediallänge
ischmu.a.7
5.2 Problemstellung
Wenn tatsächlich Dehnungsübungen bzw. Stretching neben einer Vergrößerung der Gelenkamplitude die erhofften Effekte auf die Muskellänge und die Ruhespannung ausüben, dann müßten folgende Veränderungen zu finden sein:
a) Setzen Dehnungsmaßnahmen die Ruhespannung herab, müßte die Kurve im Ruhespannungs-Dehnungs-Diagramm nach ‚rechts‘ verschoben sein (Abb. 7a), d.h. die Ruhespannung bei einem vorgegebenen Gelenkwinkel niedriger sein als vor dem Dehnungstraining.
b) Es ist weiterhin zu erwarten, daß ein Dehnungstraining sowohl Auswirkungen auf die Länge der Muskelfasem (wie es ALWAY u.a. 1988; HOLLY u.a. 1980 und WILLIAMS u.a. 1986 im Tierexperiment nachwiesen) und auf die Stiffness der serienelastischen Elemente zeigen könnte. Im ersten Fall müßten beide Schenkel des relativen Kraft-Längendiagramms flacher werden (Abb. 7b), im zweiten Fall ist ein flacherer linker Schenkel und ein steilerer rechter Schenkel zu prognostizieren (Abb. 7c). Da sich die beiden Effekte zumindest auf der linken Seite der Kraft-Längenkurve überlagern, könnte ein veränderter Explosivkraft-Wert zur Klärung hilfreich sein, denn nachgiebigere serienelastische Elemente müßten einen weniger steilen Anstieg der Explosivkraftkurve verursachen.
c) Eine Muskelverlängerung durch Dehnungsmaßnahmen müßte dann diagnostiziert werden, wenn die Mediallänge des Muskels bzw. der Gipfel der Kontraktionskraft-Längenkurve in einem Bereich einer höheren Muskelmomentanlänge auftreten (Abb. 7d).

5.3 Versuchspläne
Die Wirkungen von Dehnungsbehandlungen auf die ausgewählten muskulären Parameter wurden in drei Erhebungen geprüft:
a) Singulär-Behandlung: Es wird vornehmlich getestet, wie einzelne Dehnungsmaßnahmen die muskulären Parameter der ischiocruralen Muskeln beeinflussen. Es ist zu prüfen, ob eine einzige Dehnung einen ‚Dehnungsrückstand‘ verursacht und ob sich nach einer MIVC ein „Kontraktionsrückstand“ oder eine postisometrische Relaxation nachweisen läßt.
b) Kurzzeit-Behandlung: Die Maßnahmen zur kurzzeitigen Belastung der ischiocruralen Muskeln sind in der Dimensionierung an solche Trainingseinflüsse angepaßt, wie sie im Laufe einer Trainingseinheit in Form von Dehnungs- oder Kraftübungen für einen Muskel oder in Form eines Aufwärmens auftreten. Es wird geprüft, welche Einflüsse ein jeweils 15minütiges Dehnungstraining (Abb. 8) oder Krafttraining (Abb. 6a) bzw. stationäres Radfahren auf die muskulären Parameter ausüben. Zusätzlich wurde eine Versuchsgruppe mit kurzzeitigem ballistischen Dehnen behandelt.
c) Langzeit-Behandlung: Es wird geprüft, wie sich ein zehnwöchiges Dehnungstraining – dreimal wöchentlich je 15 min (Abb. 8) – auf die muskulären Parameter der ischlocruralen Muskeln auswirkt.

Abb. 8: Dehnungstraining für die ischiocruralen Muskeln. Je Übung drei Wiederholungen: weiches Vordehnen – 10s-Halten – Nachdehnen bis zum Maximum – 10s-Halten – 20s-Entspannen und Lockern
ischmu.a.85.4 Ergebnisse und Diskussion
Folgende Ergebnisse wurden erzielt (Die Ergebnisse der Kurzzeitbehandlung sind in Tab. 9 und Abb. 9, die der Langzeitbehandlung in Tab. 10 und Abb. 10 dargestellt):
1. Dehnfähigkeit (ROM, HBW): Folgen zwei singuläre Dehnungsprozeduren unmittelbar hintereinander, wird in der zweiten Dehnungsprozedur ein um 4,6 % (3,7 % wVpn; 5,7 % mVpn) erweiterter Hüftbeugewinkel erreicht. In weiteren drei singulären Dehnungsprozeduren wird der Hüftbeugewinkel nicht mehr signifikant gesteigert. Die bei männlichen Versuchspersonen (mVpn) in der Kurzzeitbehandlung (außer in der Krafttrainingsgruppe, RT, Abb. 9, Tab. 9) erreichte Steigerung der Dehnfähigkeit unterscheidet sich nicht signifikant von der in den fünfsingulären Dehnbehandlungen erreichten Zunahme der Dehnfähigkeit. Die in einem Langzeittraining für die ischiocruralen Muskeln – nach Abklingen von Kurzzeiteffekten – gesteigerte Dehnfähigkeit (Abb. 10, Tab. 10) liegt höher als bei der singulären bzw. kurzzeitigen Dehnungsbehandlung, allerdings nur bei den mVpn signifikant zur Singulärbehandlung.

Tabelle 9: Maximaler Hüftbeugewinkel (ROM), maximale Dehnungsspannung (Tmax), Reflexaktivität im Bereich des maximalen Hüftbeugewinkels (EMGmax), Ruhespannung (T70) und Reflexaktivität im Bereich des 70°-Hüftbeugewinkels (EMG70) der ischiocruralen Muskeln vor und nach 15min Krafttraining (RT), statischem Stretching (SS), ballistischem Dehnen (BS) oder stationärem Radfahren (SC);
ischmu.t.9
2.
Dehnbelastungsfähigkelt (Tmax, rSp): Bei der dritten Behandlung der Singulärmaßnahmen ist die maximale Dehnungsspannung, die die Vpn in der gedehnten ischiocruralen Muskulatur zu ertragen bereit sind, um 12,4 % gestiegen. Ein kurzzeitiges stationäres Radfahren SC bzw. Krafttraining RT liefert keine signifikant größere Steigerung der Dehnbelastungsbelastungsfähigkeit (Abb. 9, Tab. 9). Dagegen steigert sowohl statisches (SS) als auch dynamischen (BS) Kurzzeitdehnen die Dehnbelastungsfähigkeit (Tmax, Abb. 9, Tab. 9) signifikant. Ein Langzeittraining steigert die maximale Dehnfähigkeit – nach Abklingen von Kurzzeiteffekten – um 32,6 % bei den wVpn und um 30,1 % bei den mVpn (Abb. 10, Tab. 10), in beiden Fällen signifikant mehr als in den anderen Behandlungsformen.

Abb. 9: Ruhespannungs-Dehnungskurven der ischiocruralen Muskeln vor (offene Kreise) und nach (ausgefüllte Kreise) jeweils 15-minütigem statischem Stretching bzw. ballistischem Dehnen bzw. Krafttraining bzw. stationärem Radfahren; nur männliche Vpn
ischmu.a.9
3. Entspannungsfähigkeit (EMG70, EMGmax): Singuläre Dehnungsmaßnahmen verändern die Reflexaktivität der ischiocruralen Muskeln während der Dehnungsprozedur weder in mittleren Dehnungsbereichen (EMG70) noch in Bereichen maximaler Dehnung (EMGmax). Kurzfristiges und langfristiges Dehnungstraining vermindert nur bei den männlichen Vpn die während der Dehnungsprozedur auftretenden maximalen Reflexaktivitäten (EMGmax, Tab. 9 und 10), bei langfristigem Dehnen signifikant deutlicher gegenüber dem Kurzzeitdehnen.
4. Ruhespannung (T70). Nur bei singulären Dehnen sinkt die Ruhespannung (offensichtlich als Aufwärmeffekt) von der ersten zur zweiten Dehnungsprozedur signifikant. Ab der 3. Dehnungsprozedur ist kein Absenken der Ruhespannung (T70) mehr nachzuweisen. Weder Kurzzeitdehnen (Abb. 9, Tab. 9) noch Langzeitdehnen (Abb. 10, Tab. 10), jeweils angewendet nach entsprechenden Aufwärmmaßnahmen, verändert die Ruhespannung in mittleren Bereichen der Dehnungsprozedur (d.h. die Spannung, die der gedehnte Muskel der Dehnungsprozedur entgegensetzt). Die Ruhespannungs-Dehnungskurve wird nicht in Bereiche niedrigerer Spannung verschoben. Demgegenüber zeigt sich nach 15minütigem stationärem Radfahren die Tendenz zu einer abgesenkten Ruhespannung in mittleren Dehnungsbereichen. Bei weiblichen Vpn steigert Langzeitdehnen die Ruhespannung signifikant (Abb. 10, Tab. 10).

Tabelle 10: Ausprägung muskulärer Parameter vor (VT) und nach (NT) einem 10wöchigen Dehnungstraining der ischiocruralen Muskeln. (b), b. bb bzw. (g), g, gg: tendentieller, signifikanter und sehr signifikanter Effekt der Behandlung bzw. des Geschlechtes
ischmu.t.105. Muskellänge: Ein langfristiges Dehnungstraining verändert nicht die Muskellänge (d.h. die Momentanlänge, in der der Muskel die Maximalkraft erzeugt). Die Kraft-Längen-Kurve ist nicht in Bereiche größerer Muskelmomentanlänge verschoben.
6. „Kontraktionsrückstand“ oder postisometrische Relaxation: Nach einmaliger MIVC und nach 15minütigem Krafttraining sind die erhobenen muskulären Parameter unverändert. Es gibt weder Anzeichen für einen Kontraktionsrückstand noch für eine postisometrische Relaxation.
7. Faserlänge: Es gibt Anzeichen, daß zumindest bei den mVpn ein langfristiges Dehnungstraining zu einem Längenwachstum der Muskelfasern führt, da bei unveränderter Maximalkraft die Kontraktionskraft in Dehnungsbereichen weit unterhalb und weit oberhalb der Mediallänge signifikant gestiegen ist.
8. Nachgiebigkeit der serienelastischen Elemente: Alle verwendeten Dehnungsmaßnahmen lassen mit Hilfe der verwendeten Methoden keine – kurzfristige oder langfristige – Veränderung der Nachgiebigkeit der serienelastischen Elemente erkennen.
9. Maximalkraft und Explosivkraft: Kurzfristiges und langfristiges Dehnungstraining verändert die Explosivkraft nicht. Bei wVpn findet sich nach einem langfristigen Dehnungstraining eine signifikant gestiegene Maximalkraft der ischiocruralen Muskeln (Abb. 10, Tab. 10).

Abb. 10: Ruhespannungs-Dehnungs-Diagramm (d) und Kraft-Längen-Diagramm (h) der ischiocruralen Muskeln vor (VT) und nach (NT) einem zehnwöchigen Dehnungstraining bei 12 weiblichen (W) und 13 männlichen (M) Versuchspersonen
ischmu.a.10
10. Geschlechtsbedingte Differenzen: Bei untrainierten Vpn ist die Dehnfähigkeit der ischiocruralen Muskeln (bestimmt durch den maximalen Hüftbeugewinkel) bei den wVpn um rund 13 % größer als bei den mVpn. Bei den mVpn zeigen die Spannungsparameter (Maximalspannung 32 %, Ruhespannung 100 %) und die Kraftparameter (Maximalkraft 53 %, Explosivkraft 52 %) eine größere Ausprägung. Die geschlechtsbedingte Differenz verschwindet lediglich bei der Dehnfähigkeit nach einem langfristigen Dehnungstraining. Bei der Faserlänge und der Muskellänge sind keine geschlechtsbedingten Differenzen zu entdecken. Bemerkenswert ist lediglich der Verdacht auf Faserverlängerung bei den mVpn durch die Langzeitbehandlung.

Die Befunde geben zu folgenden Schlußfolgerungen Anlaß:
Ein statisches Dehnungstraining in der gewählten Dimension, die sich an der üblichen Sport- und Trainingspraxis orientiert, vergrößert zwar die Dehnfähigkeit und die Dehnbelastungsfähigkeit, beeinflußt aber nicht die Ruhespannung und die Muskellänge. Damit werden (mit Ausnahme der Verletzungsprophylaxe) die wesentlichen übrigen Effekte (außer Dehnfähigkeit), die im Training und in der Rehabilitation Dehnungsmaßnahmen zugewiesen werden, in Frage gestellt. Die Ergebnisse sowie eine korrekte Literaturauswertung verbieten es, Effekte des Dehnungstrainings auf das Phänomen des Dehnungsrückstandes zurückzuführen. Sollten sich die Ergebnisse in Untersuchungen mittels anderer Methoden und an anderen Muskeln bestätigen, ist für die Empfehlung von Dehnungsmaßnahmen in Training und Rehabilitation eine neue Legitimation zu suchen.

Dehnungsmaßnahmen sind im Training insofern zur Leistungsoptimierung sinnvoll, als sie die Dehnfähigkeit der Muskeln verbessern und somit größere Bewegungsamplituden und Beschleunigungswege garantieren und über die Steigerung der Belastungsfähigkeit (möglicherweise) vor Verletzungen schützen, obwohl sowohl BUROKER/SCHWANE (1989) als auch HIGH et al. (1989) durch statisches Dehnen das Auftreten von Muskelkater nach erschöpfender Kraftbelastung nicht beeinflussen können. Statt dessen zeigte sich bei WIEMANN/KAMPHÖFNER(1995) ein verstärkter Muskelkater nach statischem Dehnen in Verbindung mit exzentrischem Krafttraining. Zur Verringerung des Ruhetonus scheinen eher solche Maßnahmen von Bedeutung zu sein, die die Durchblutung des Muskelgewebes fördern.

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6. KRAFTBELASTUNG DER ISCHIOCRURALEN MUSKELN – AUSWIRKUNGEN AUF DIE DEHNFÄHIGKEIT UND VERWANDTE PARAMETER

Es wird vielfach angenommen, daß Kraftbelastungen neben den gewünschten Effekten auf die Kraftfähigkeiten des Muskels auch negative Wirkungen auf die Dehnungsfähigkeit bzw. auf die Länge des Muskels (so z.B. bei GRAFF/PRAGER 1986, DIETRICH 1985 und 1989) und den Ruhetonus (so bei DORDEL 1975) zeigen würden. Offensichtlich entspringen solche Annahmen aber vornehmlich allgemeinen Erfahrungen aus der Trainingspraxis bzw. aus der manuellen Medizin und sind nicht empirisch abgesichert.

Im Rahmen unserer Projekte zur Abhängigkeit der Sprintleistung von diversen Kraft- und Dehnungsparametern der ischiocruralen Muskeln stehen als Nebenergebnisse Befunde zur Verfügung, die auf einige dieser Fragen Antworten geben können.

Die Definitionen der in diesem Zusammenhang ermittelten muskulären Parameter sind vorn (Kap. 2) wiedergegeben.

6.1 Die Wirkung singulär« Kraftbelastung auf Dehnungsparameter
Einer einzelnen isometrischen Kontraktion eines Muskel wird nachgesagt, daß sie in der Postkontraktionsphase im Muskel zu einer reduzierten Reaktion auf einen Dehnungsreiz führe (DIETRICH et al. 1985 und 1989). BEAULIEU (1981) führt dazu genauer aus, daß das Golgi-Sehnenorgan durch die Kontraktion zu feuern angeregt wird und deshalb der Muskel (auch nach Ende der Kontraktion) – auf dem Wege über die autogene Hemmung – entspannt würde. ETNYRE/ABRAHAM (1986) finden tatsächlich für eine Phase von 0,5-1sec nach einer isometrischen Kontraktion reduzierte H-Reflexe, woraus sie auf eine reduzierte Alpha-Motoneuronen-Erregbarkeit, bedingt durch die lb-Inhibition schließen. Auch GUISSARD et al. (1988) finden nach maximaler isometrischer Kontraktion einen um 50 % reduzierten H-Reflex, der aber schon nach 5 sec nahezu komplett wieder hergestellt ist. Dieser Effekt der postisometrischen Relaxation wird von anderen Autoren in Frage gestellt. HUTTON/NELSON (1986) zeigten, daß die lb-Entladung nach ermüdender Dauerkontraktion für viele Sekunden ganz verschwunden oder zumindest stark reduziert ist, was im Grunde einer Reduktion der Eigenhemmung und damit einer erhöhten Erregbarkeit der α-Motoneurone gleichkommt. NELSON/HUTTON (1985) fanden nach starker Kontraktion eine erhöhte Ruhespannung sowohl im entdehnten Muskel als auch während einer Rechteckdehnung. RIBOT-CISAR et al. (1991) erhielten in der postisometrischen Phase der Fußheber und Zehenstrecker zwar keine erhöhte Spindelentladung, bei postisometrischen Dehnungen war jedoch die Entladungslatenz der Spindelrezeptoren verkürzt, was einer erhöhten Empfindlichkeit gegenüber Dehnungen und damit einer möglichen Erhöhung der α-Motoneuronen-Erregbarkeit entspricht. Dies müßte einen durch vermehrte Dehnungsreflexe bedingten erhöhten Widerstand des Muskels gegen Dehnungsmaßnahmen bedeuten. MOORE/HUTTON (1980) finden aber keine erhöhten Reflexaktivitäten bei postisometrischer Dehnung im Vergleich zu statischem Dehnen.

Im Laufe unserer Erhebungen zum Dehnungsverhalten der ischlocruralen Muskeln haben wir u.a. auch den Spannungsverlauf während einer Dehnungsprozedur nach isometrischer Kontraktion aufgezeichnet und mit anderen singulären Dehnungsprozeduren verglichen. Der genaue Ablauf der Behandlung zeigte zuerst eine Dehnungsprozedur als Vortest, dann eine Behandlung (entweder eine zweite Dehnung oder eine maximale isometrische Willkürkontraktion) und als Nachtest wieder eine Dehnungsprozedur. Die auf diese Weise gewonnenen Ruhespannungs-Dehnungskurven sind in Abb. 11 dargestellt.

Abb. 11: Ruhespannungs-Dehnungskurven vor (VT) und nach (NT) einer 10 sec-MIVC der ischiocruralen Muskeln. links: Vpn ohne Aufwärmung vor dem Vortest (n = 21 männl. Vpn). rechts. Vpn zum Vortest aufgewärmt (n = 20 männl. Vpn). Pfeile: signifikante Differenzen
ischmu.a.11Als Ergebnis muß festgehalten werden, daß eine einmalige Kraftbelastung der ischiocruralen Muskeln keinen Einfluß auf die Dehnungsparameter ausübt, der sich vom Einfluß anderer Belastungen (z.B. Dehnungsbelastung) unterscheiden würde. Die Reduktion der Ruhespannung in größeren Dehnungsbereichen (Abb. 11, links) führen wir auf einen Aufwärmeffekt zurück, der sich in gleicher Weise einstellt, wenn zwischen den beiden Dehnprozeduren statt der maximalen isometrischen Willkür-Kontraktion (MIVC) eine zusätzliche Dehnungsprozedur eingeschoben ist. Wird nämlich der Muskel schon vor dem Vortest aufgewärmt oder durch einige Dehnprozeduren „vorgedehnt“, zeigt die postisometrische Ruhespannungs-Dehnungskurve eher erhöhte Ruhespannungen (Abb. 11, rechts). Die Vergrößerung der Gelenkreichweite in der unaufgewärmten Gruppe lässt vermuten, dass die Steigerung der Gelenkreichweite nach singulärem Dehnen vorwiegend auf Aufwärmeffekte zurückzuführen ist (Abb. 11, links), die in der aufgewärmten Gruppe nicht mehr zu einer Nt-Vt-Differenz in der Dehnfähigkeit beitragen können (Abb. 11, rechts).

Singulären Kraftbelastungen wird aber auch nachgesagt, daß sie, sofern der Muskel sich bei der Kontraktion in einem entdehnten Zustand befindet, zu einem sogenannten Deltazustand führen, der sich dadurch auszeichnet, daß der Muskel, wenn er danach in mittleren Dehnungsbereichen zur Kontraktion gebracht wird, nicht diejenigen Kontraktionskräfte aufzubringen vermag, wie vor der Behandlung. DORDEL (1975) bezieht sich dabei auf die Befunde von RAMSEY/STREET (1940), die mit isolierten Fasern des Froschmuskels arbeiten. Hier ist jedoch zu bemerken, daß die Voraussetzung zum Auftreten eines Deltazustandes eine Entdehnung der Einzelfaser bis unter 30 % der Ruhelänge darstellt. Wird die derart entdehnte Faser durch künstliche Stimulation zur Kontraktion gebracht, kann sie sich nach Einstellen der Stimulation nicht mehr entspannen, sondern verharrt in dem verkürzten Zustand. Wenn sie danach schrittweise gedehnt und in den einzelnen Dehnungspositionen stimuliert wird, erreicht sie nicht die Kontraktionskräfte, die bei normaler Situation erreichbar sind. Übertragen auf die Muskulatur des Menschen in vivo muß bezweifelt werden, ob derartige Entdehnungen selbst bei zweigelenkigen Muskeln möglich sind. Nach unseren Berechnungen sind die ischiocruralen Muskeln bei gestrecktem Hüftgelenk und rechtwinklig gebeugtem Kniegelenk gerade mal auf 60 % Mediallänge entdehnt. Es bleibt also zu bezweifeln, ob hier etwas ähnliches wie der Delta-Zustand der isolierten Fasern von RAMSEY/STREET zu beobachten ist.

Im Zusammenhang mit einigen Vorversuchen zur Quantifizierung des EMGs der ischlocruralen Muskeln in unterschiedlichen Dehnungszuständen wurden an der Meßstation (Abb. 1) MIVCs ausgeführt, indem – im entdehnten Zustand begonnen – schrittweise in steigender Dehnung MIVCs verlangt und nach Erreichen der maximal gedehnten Position MIVCs in schrittweise abnehmender Dehnung ausgeführt wurden. Des Ergebnis zeigt Abb. 12, links. Ein Unterschied in der Kraftfreisetzung ist nur in den größeren Dehnungsbereichen zu beobachten, und zwar in der Weise, daß bei absteigender Dehnung größere Kräfte erzeugt werden als bei steigendem Dehnungsgrad.

Abb. 12: Kraft-Längen-Kurve (links) und iEMG-Diagramm (rechts) von MIVCs in schrittweise aufsteigendem und absteigendem Dehnungsgrad der ischiocruralen Muskeln (n=14 männl. Vpn). ♣: signifikante Differenzen
 ischmu.a.12Um zu prüfen, ob das Phänomen durch die vorgeschalteten Kontraktionen im entdehnten Bereich im Sinne eines Deltazustandes verursacht wurde, sind in einem folgenden Test die entdehnten Positionen ausgelassen und nur die Positionen 3,5 und 8 (s. Tab. 1) geprüft worden. Hier zeigt sich das Phänomen in gleicher Weise. Daraus kann gefolgert werden: Geht einer Kontraktion in mittlerem Dehnungszustand eine Kontraktion im gedehnten Zustand voran, werden höhere maximale isometrische Kräfte erzeugt, als dann, wenn eine Kontraktion im entdehnten Zustand vorangeht.

Eine mögliche Erklärung ist eine überdauernde erhöhte Erregbarkeit der α-Motoneurone nach der Kontraktion im gedehnten Zustand, bewirkt durch überdauernde la- und/oder lb-Effekte (Abb. 12, links). Die Konsequenzen für die Trainings- und Wettkampfpraxis wäre zu diskutieren.

6.2 Wirkung eines kurzfristigen Krafttrainings auf Dehnungsparameter
Eine mögliche Ursache, daß im vorherigen Experiment die Wirkung eines Delta-Zustandes der ischiocruralen Muskeln nicht nachgewiesen werden konnte, mag daran liegen, daß eine einmalige Willkürkontraktion im entdehnten Zustand nicht zum Entstehen eines Deltazustandes ausreicht – im Gegensatz zur künstlichen Stimulation von Einzelmuskelfasern in vitro. Möglicherweise müssen Serien von Kontraktionen untersucht werden, etwa wie sie in einem Trainingsprogramm von 10 bis 15 min mit mehreren Wiederholungen und Sätzen auftreten. Besonders DORDEL (1975) reklamiert die Notwendigkeit von Dehnungsübungen im Anschluß an ein Krafttraining zur Vermeidung von Muskelverkürzungen. Demnach sollte man meinen, nach Krafttrainingseinheiten müßten im Muskel erhöhte Ruhespannungen auftreten, die durch Dehnungsmaßnahmen zu beseitigen sind bzw. nach Krafttrainingseinheiten müßten die Muskeln ‚verkürzt‘ (nach Definition JANDA 1976 bzw. GRAFF/PRAGER 1986) bzw. weniger dehnfähig sein als vorher.

lm Zusammenhang mit einer Untersuchung über die Wirkung verschiedener Dehnungstrainingsmethoden für die ischiocruralen Muskeln von 15 min Dauer auf die verschiedenen Dehnungsparameter (s. Kap. 5) wurde auch die Wirkung eines 15minütigen Krafttrainings für die ischiocruralen Muskeln auf die Dehnungsparameter untersucht.

Das verwendete Krafttrainingsgerät (s. Abb. 6, links) belastet die ischiocruralen Muskeln in einem stark entdehnten Bereich. Dieser entspricht einem Dehnungsgrad von 60-65 % der Mediallänge. Damit konnte zwar noch nicht in einem Bereich der Entdehnung trainiert werden, wie ihn RAMSEY/STREET (1940) mit 30 % zugrunde legten, aber dennoch in einem Dehnungszustand, in dem die Muskeln an der untersten Grenze dessen arbeiten, an der noch einigermaßen hohe Kontraktionskräfte freigesetzt werden können. Trainiert wurde mit 60-80 % der Maximalkraft (also 8-12 Wiederholungen pro Satz), fünf Sätze mit je 3 min Pause. Direkt vor und direkt nach dem Training wurde eine Dehnungsprozedur als Vor- und Nachtest absolviert, aber mit dem Unterschied zur vorhin besprochenen singulären Behandlung, daß die Vpn vor dem Vortest ein 5minütiges Aufwärmen in Form von Dauerlauf absolvierten.

Die Ruhespannungs-Dehnungskurven von Vortest und Nachtest zeigt Abb. 9 (unten links) die zugehörigen Werte sind Tab. 9, Spalte 3 zu entnehmen. Aus dem Ergebnis muß gefolgert werden, daß 15 min Krafttraining nicht zu einer Muskelverkürzung (besser Muskelverspannung) führt. Auch die Dehnfähigkeit ist nicht reduziert. Möglicherweise hat jedoch die Art und Weise des Vorgehens während der Tests die Ergebnisse beeinträchtigt: Nach dem Krafttraining mußten nämlich die Vpn das Krafttrainingsgerät verlassen, auf das Muskeltestgerät steigen, das Testbein wurde auf der Dehnungswaage befestigt, die Vp angeschnallt, die EMG-Kabel eingestöpselt usw. Diese Manipulationen mögen etwa 3 min gedauert haben. Es kann also sein, daß in dieser Zeit und durch die Aktionen der Vpn ein irgendwie gearteter Effekt des Krafttrainings auf die Dehnungsparameter ausgelöscht wurde. Wenn dem so ist, wenn ein solcher Effekt durch wenige Aktionen der Alltagsmotorik aufgehoben werden kann, wird er für die Trainingspraxis nicht von Bedeutung sein.

6.3 Wirkung eines langfristigen Krafttrainings auf Dehnungsparameter
Versteht man unter den vorn beschworenen Muskelverkürzungen Änderungen am Muskel, die eher auf Wachstumsprozesse zurückzuführen sind, können diese nur längerfristig entstehen und möglicherweise auch nur durch längerfristige Kraftbelastungen verursacht werden. Wie eine solche Muskelverkürzung morphologisch vorzustellen ist, läßt sich in der Literatur nicht finden. Berücksichtigt man jedoch die geometrischen Bedingungen der Muskelfaser, lassen sich mögliche Wirkungszusammenhänge zwischen Krafttraining und Muskeldimensionen erkennen.
Abb. 13 stellt schematisch den Bau eines Muskels und den Dehnungszustand eines Sarkomers in der Muskelfaser sowie die jeweiligen hypothetischen Kraft-Längen- bzw. Ruhespannungsdehnungskurven dar. Wird der Muskel in a) durch ein längerfristiges Krafttraining behandelt und würde der Muskel nur mit einer Faserquerschnittszunahme reagieren, wäre durch die damit verbundene Vergrößerung des Fiederungswinkels in der Ruhelänge (Abb. 13, b und c) eine Muskelverkürzung und somit eine Verschiebung sowohl der Kraft-Längenkurve als auch der Ruhespannungs-Dehnungskurve „nach links“ verbunden. Würde der Muskel auf das Krafttraining jedoch sowohl mit einem Dickenwachstum als auch mit einem Längenwachstum der Faser reagieren, müßte die in Abb. 13 d dargestellte Veränderung der Kraft-Längen- bzw. der Ruhespannungs-Dehnungs-Beziehung zu erwarten sein.

Abb. 13: Schematische Muskelstruktur vor (a) und nach einem Faserdickenwachstum (b-c) und einem Faserdicken- und -längenwachstum (d) mit zugeordneten Kraft-Längen- und Ruhespannungs-Dehnungskurven. Gestrichelte Kurven: hypothetische Veränderung nach der Behandlung. a, b und d: identischer Dehnungsgrad. c: gedehnt auf die ursprüngliche Ursprung-Ansatz-Distanz. Weitere Erläuterung im Text.
ischmu.a.13
Im Zusammenhang mit der Frage, ob ein Krafttraining für die ischiocruralen Muskeln einen Einfluß auf die Sprintgeschwindigkeit hat (s. Kap. 4), und ob dieser Einfluß möglicherweise auf eine Längenänderung des Muskels zurückgeführt werden kann, wurde mit Studenten ein zehnwöchiges Krafttraining für die ischiocruralen Muskeln durchgeführt und der Einfluß dieses Trainings auf die Kraft-Zeit-Kurven überprüft.

Es wurde in mehreren Gruppen an den in Abb. 6 dargestellten Trainingsgeräten gearbeitet, nämlich einmal in dem schon erwähnten Dehnungsgrad zwischen 60 % und 65 % Mediallänge (Abb. 6, links) sowie im gedehnten Bereich, etwa bei 105 % bis 115 % Mediallänge (Abb. 6, rechts). Die weiteren Modalitäten der Gruppenbildung sowie der Trainingsgestaltung und Testmethoden sind in Kap. 4 beschrieben.

Abb. 14: Kraft-Längen-Kurve und Ruhespannungs-Dehnungsbeziehung der ischiocruralen Muskeln vor (Vt) und nach (Nt) einem 10wöchigen Krafttraining. links:Krafttraining im entdehnten Muskelzustand (n=8 männl, Vpn). rechts: Krafttraining im gedehnten Muskelzustand (n=6 männl. Vpn)
ischmu.a.14Die Ergebnisse, soweit sie die Auswirkung von Krafttraining auf Längen- und Dehnungsparametem betreffen, zeigen die Diagramme von Abb. 14 und die Tabellen 5, 6 und 11. Die Befunde lassen folgende Schlußfolgerungen zu: Langfristiges Krafttraining für die ischiocruralen Muskeln scheint zumindest die Tendenz mit sich zu bringen, die Mediallänge in Bereiche verminderter Ursprungs-Ansatz-Distanzen zu verlagern. Bestimmt man die ‚Muskellänge“ auf dem Wege über das Kraft-Längen-Verhalten, verlangen die Ergebnisse die Schlußfolgerung, daß Krafttraining in der gewählten Dimensionierung Muskeln kürzer macht. Diese Tendenz ist in denjenigen Trainingsgruppen, die neben dem Krafttraining zusätzlich ein Dehnungstraining für die ischiocruralen Muskeln durchführen, größer als in den reinen Krafttrainingsgruppen (Tab. 11). Dehnungstraining in der hier gewählten Dimension kann somit die Tendenz zur krafttrainingsbedingten Muskelverkürzung nicht mildern. Ob die beobachtete Muskelverkürzung lediglich auf die mit einer Faserhypertrophie verbundenen Vergrößerung des Fiederungswinkels (Abb. 13, b) oder auf eine Verkürzung der Muskelfaser und/oder der serienelastischen Elemente zurückzuführen ist, muß offen bleiben (s. Argumentation oben!).

Tabelle 11: Häufigkeit der Mediallänge in kleiner Ursprung-Ansatzdistanz (F max in Pos. 4 und 5) und in großer Ursprung-Ansatzdistanz (F max in Pos. 6 und 7) vor (VT) und nach (NT) einem 10wöchigen Krafttraining
ischmu.t.11Mehrwöchiges Krafttraining hebt die Ruhespannung. Dieser Effekt wird durch ein zusätzliches Dehnungstraining nicht beeinflußt, zumal auch diejenige Gruppe, die ausschließlich ein zehnwöchiges Dehnungstraining absolvierte, ein Anheben der Ruhespannung zeigt. Bestimmt man also «Muskellänge« über die Ruhespannung, müssen die Ergebnisse zu dem Schluß führen, daß Krafttraining (aber auch Dehnungstraining) den Muskel verkürzt.

Krafttraining beeinflußt die Dehnfähigkeit nicht. Bestimmt man also die „Muskellänge“ bzw. den Grad der Muskelverkürzung über die Dehnfähigkeit, könnten die Befunde keine Aussage über die Veränderung der Muskellänge zulassen.

Ob diese Ergebnisse auch für andere Muskeln gelten, muß vorerst noch offen bleiben. Zwar haben THEPAUT-MATHIEU et al. (1988) den M.triceps brachii in unterschiedlichen Dehnungsbereichen trainiert und festgestellt, daß der Kraftzuwachs in denjenigen Bereichen am größten war, in dem auch das Training stattfand, aber eine Verlagerung der Mediallänge wurde nicht untersucht. Lediglich aufgrund der von THEPAUT-MATHIEU et al. mitgelieferten Kurvenbildern läßt sich im einen oder anderen Fall eine Verlagerung der Mediallänge vermuten.

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