Klaus Wiemann und Günter Tidow

Die Adduktoren beim Sprint – bisher vernachlässigt?
(aus: Die Lehre der Leichtathletik. 7/94. 33. Jahrgang. 19.03.1994 und 24.03.1994, S. 15-18. In: Leichtathletik Nr. 19/94)

adduct_spri.a.1Abb. 1: Verdeutlichung der Lage des M. adductor magnus.
a) Oberschenkel von innen, b) Ansicht von vorn, c) schematisch: Oberschenkel von innen, d) Oberschenkelquerschnitt. ama = M. adductor magnus, äußererTeil; ami = M. adductor magnus, innerer Teil; al = M. adductor longus; bf = M. biceps femoris; em = innerer Gelenkknorren des Oberschenkels; g = M. gracilis; isch = ischiocrurale Muskeln; rf = M. rectus femoris; ri = Sitzbeinast; s = M. sartorius; sm = M. semimembranosus; st = M. semitendinosus; ti = Sitzbeinhöcker; vi = M. vastus intermedius. vl = M. vastus lateralis; vm = M. vastus medialis.

Zusammenfassung: Daß die Adduktoren (Schenkelanzieher) die Funktion haben, den seitlich abgespreizten Oberschenkel in die“ Normalstellung“ wiederheranzuziehen, ist eine grobe Vereinfachung ihrer Wirkungsmöglichkeiten. Daß dies kein Einzelfall ist, sondern ein weiteres Beispiel grober Vereinfachung der Wirkungsmöglichkeiten von Skelettmuskein, konnte schon in bezug auf die ischiocruralen Muskeln als „Kniebeuger“ gezeigt werden. ) Diese haben – entgegen ihrer deutschen Bezeichnung – unter bestimmten Bedingungen auch einen kniestreckenden Einfluß. Diese Erkenntnis führte zu einer Revision der Beurteilung der Bedeutung der Hüft- und Kniestreckmuskeln für die Vortriebserzeugung beim Sprint. Der nachfolgende Beitrag weist nach, daß der M. adductor magnus zusammen mit dem M. glutaeus maximus eine zügelartige Muskelschlinge bildet, die das Bein während des Sprintschritts aktiv-dynamisch abwärtsbewegt und für eine große, rückwärtsgerichtete Auftreffgeschwindigkeit des Fußes sorgt. Dabei unterstützt dieser Zügel den von den ischiocruralen Muskeln gebildeten Zügel, der jedoch aufgrund seiner konstanten Aktivität während der gesamten Bewegungsphase eine größere Bedeutung für die Erzeugung des Vortriebs beim Sprint besitzt. Wichtig ist, daß die gesamte Phase vom Beginn der Abwärtsbewegung bis zum Lösen des Fußes vom Boden am Ende der Stützphase als eine einheitliche Funktion angesehen und als Zugphase bezeichnet wird.

Den Adduktoren (Abbildung 1), also denjenigen Muskeln der Beininnenseite, die man Schenkelanzieher nennt, wird gemeinhin die Funktion zugeschrieben, den seitlich abgespreizten Oberschenkel in die „Normalstellung“ wieder heranzuziehen (= zu adduzieren). Daß eine solch grobe Vereinfachung der Wirkungsmöglichkeiten nicht genügt, das gesamte Spektrum seiner Funktionen umfassend darzustellen, sollte man nicht zuletzt vom Beispiel der als Kniebeuger bekannten ischiocruralen Muskeln kennen. Hier – bei den ischiocruralen Muskeln – konnte gezeigt werden, daß sie unter bestimmten Bedingungen auf das Kniegelenk einen anderen Einfluß ausüben, als die pauschale Bezeichnung „Kniebeuger“ es vermuten läßt, nämlich einen kniestreckenden. Die Erkenntnis, daß die ischiocruralen Muskeln in der Stützphase des Sprints sowohl die Hüfte als auch das Kniegelenk strecken (LOMBARDschesParadoxon,s. WIEMANN 1991), führte zu einer Revision in der Beurteilung der Bedeutung der Hüft- und Kniestreckmuskeln für die Erzeugung des Vortriebes beim Sprint (WIEMANN 1989).

Auch bei der Einschätzung der Wirkung der Adduktoren sollte man sich nicht mit der pauschalen Funktionszuordnung der Adduktoren, wie sie sich aus der Namensgebung aufdrängt, zufrieden geben, sondern ihre Wirkungsweise stets in der aktuellen Situation unter Berücksichtigung des „mechanischen Umfeldes“ bewerten. Konkret gefragt: Welche Rolle spielen die Adduktoren beim Sprint?

Wo liegt das Problem?

Die Untersuchungen zur Funktion der ischlocruralen Muskeln (im folgenden IM) beim Sprint haben gezeigt, daß diese Muskeln – vom Sitzbein herabziehend – eine zügelartige Muskelschlinge bilden, die in der Stützphase des Sprints das Stützbein unter den Körper hinweg nach hinten ziehen und auf diese Weise den Körper nach vorn treiben (WIEMANN 1989). Ungeklärt ist bisher dabei die Rolle des sehr kräftigen Gesäßmuskels (M. glutaeus maximus, im folgenden GM), der auch streckend auf das Hüftgelenk einwirkt und somit die Wirkung der ischiokruralen Muskeln für den Vortrieb unterstützen könnte. Einiges spricht dafür, die Bedeutung des GM beim Sprint in Frage zu stellen; denn der GM streckt nicht nur die Hüfte, sondern rotiert gleichzeitig auch das Bein nach außen (besonders bei gestrecktem Hüftgelenk) und spreizt es ab (besonders bei gebeugtem Hüftgelenk). D.h. bei einem auf dem Boden stehenden Stützbein dreht der GM des Stützbeines das Becken der Schwungbeinseite nach hinten, was einem raumgreifenden Ausschreiten des Schwungbeines sicher nicht förderlich ist. Dieses Problem wäre aber gelöst, wenn sich ein Muskel finden ließe, der den GM bei der Aufgabe, die Hüfte zu strecken, unterstützen und gleichzeitig seine außenrotierende und abspreizende Wirkung kompensieren bzw. neutralisieren könnte. Die ischiocruralen Muskeln können zwar die erste Aufgabe – Hüftstreckung – übernehmen, aufgrund ihres Verlaufes aber nicht die Zusatzfunktionen. Wie steht es aber mit den Adduktoren, speziell mit dem M. adductor magnus?

adduct_spri.t.1Tabelle 1: Beschriebene Muskeln, Abkürzungen und deutsche Bezeichnung

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Verlauf und Funktion des M. adduktor magnus

Es ist erstaunlich, wie stiefmütterlich der M. adductor magnus (im folgenden AM), obwohl er zu den kräftigsten Muskeln des Menschen gerechnet wird (RAUBER/KOBSCH 1987), bisher bei einschlägigen Untersuchungen zur Funktion der Muskeln beim Sprint behandelt wurde. Nur in einem der vorliegenden Berichte wurden Adduktoren untersucht, allerdings nur der vergleichsweise schwache M. adductor longus (MANN et al. 1986). Betrachtet man kernspintomografische Querschnittbilder des Oberschenkels, drängt sich geradezu der massive AM auf, der an der Innenseite des Oberschenkels neben und vor den ischiocruralen Muskeln liegt (Abbildung 1d). Insbesondere sein oberflächlich liegender äußerer hinterer Teil ist hier aus vier Gründen von besonderem Interesse:

– Er entspringt am Sitzbein und am Sitzbein ast, direkt vor dem Ursprungsgebiet der IM und zieht parallel zu diesen zum inneren Oberschenkelknorren (Epicondylus medialis). Hier setzt er an, während die IM zu den Unterschenkelknochen weiterziehen.

– Sein Verlauf (s.o.) läßt darauf schließen, daß er – vor allem bei gebeugtem Hüftgelenk eher ein Hüftstrecker als ein Adduktor ist, im Gegensatz zu den restlichen, mehr in der Tiefe liegenden bzw. inneren Teilen des AM. Natürlich wird er, wie auch die anderen Adduktoren, den abgespreizten Oberschenkel wieder heranziehen, aber dieser adduzierende Effekt reduziert sich umso mehr, je weiter das Bein der Senkrechten unter dem Rumpf angenähert ist.

– Er wird von demselben Nerv (Nervus obturatorius) versorgt wie die IM, während zu den restlichen Teilen des AM ein anderer Nerv (Nervus ischiadicus) zieht. Allein aus dieser Tatsache könnte man folgern, daß der äußere Teil des AM eher eine den IM vergleichbare Funktion erfüllt, nämlich eine Hüftstreckung.

– Zusätzlich zur Adduktion und Hüftstreckung rotiert er in fast allen Hüftwinkelstellungen den Oberschenkel nach innen, während der innereTeil des AM – besonders bei gestreckterem Hüftgelenk – den Oberschenkel nach außen rotiert.

Es zeigt sich, daß der äußere Teil des AM die vorn gesuchten Funktionen – Unterstützen des GM bei der Hüftstreckung und Neutralisieren der abspreizenden und außenrotierenden Wirkung des GM – erfüllen und mit dem GM einen Muskelzügel zur Streckung der Hüfte in der Stützphase des Sprints bilden könnte. Folglich muß experimentell geprüft werden:
– in welchen Phasen eines Sprintschrittes der AM aktiv ist,

– ob der AM mit dem GM zeitgleich agiert (synergiert) und
– wie „intensiv“ die Aktivität des AM im Vergleich zu den übrigen Hüftstreckmuskeln ausfällt.
Die zutreffende Untersuchungsmethode ist die Elektromyografie.

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Die Aktivität der Hüft- und Kniestreckmuskeln beim Sprint

Die Elektromyografie ist ein Verfahren, die Muskelaktionspotentiale (etwa 2 ms kurze und mehrere mV starke elektrische Entladungen an einer vom Nervensystem erregten Muskelfasermembran) mit Hilfe von Elektroden, die direkt über dem Muskel auf die Hautoberfläche geklebt werden, aufzufangen, abzuleiten und in Form eines Elektromyogramms aufzuzeichnen. Die an der Hautoberfläche registrierte (elektrische) Spannung steigt nun mit der Frequenz, mit der die einzelnen Muskelfasern (bzw. motorischen Einheiten) „feuern“ (etwa 10 bis 120 Entladungen pro s), und mit der Anzahl der Muskelfasern (bzw. motorischen Einheiten), die im Einzugsbereich der Elektroden aktiviert sind. Das heißt vereinfacht: Die Spannung des Elektromyogramms (EMG) steigt, je mehr sich der untersuchte Muskel „anstrengt“.

Abb 2: Roh-EMG eines Sprintschrittzyklus des rechten Beines beim vollen Sprintlauf (Weitere Erläuterungen im Text)

adduct_spri.a.2Abbildung2 zeigt das EMG eines Sprintschrittes des rechten Beines eines Sprinters (100-m-Bestzeit: 10,4 s) aus der Phase der Höchstgeschwindigkeit (letzter Schrittzyklus vor Erreichen der 50-m-Marke). Dargestellt sind (von oben nach unten) die Aktivitäten des GM, des AM, der IM und des M. vastus medialis (im folgenden VM). Der schwarze horizontale Balken verdeutlicht den Kontakt des Fußes mit dem Boden, so daß die beiden Senkrechten die Stützphase des untersuchten Beines andeuten: Nachträglich sind – zur Erleichterung der Orientierung – die Stützphase des linken Beines (s. die gestrichelten Senkrechten) und einige Einzelfiguren aus dem Schrittzyklus zugefügt. Beim „Lesen“ des EMGs sollte man stets berücksichtigen, daß vom Beginn der elektrischen Aktivität eines Muskels etwa 10 ms vergehen, bis ein erster Kraftanstieg zu verzeichnen ist, und – je nach Vorspannung des Muskels – bis zum Beginn einer Gelenkbewegung noch einmal wenige Millisekunden (bis zu 40 ms) verstreichen können (s. WINTER & BROOKES 1991). Abbildung 2 zeigt eindrucksvoll die Aktivität der IM und demonstriert deren Bedeutung für den Sprint: Kurz nachdem das rechte Bein im Laufe des Vorschwunges den höchsten Punkt erreicht hat, beginnt die elektrische Aktivität der IM des rechten Beines und bleibt während der gesamten aktiv greifenden Abwärtsbewegung, während des Stützfassens, des Durchziehens in der Stützphase und des Anfersens nach der Stützphase nahezu gleichbleibend erhalten. (Zur Orientierung über die Bedeutung der Phasen und Aktionen im Sprintschrittzyklus s. Abbildung 3!)

Abb. 3: Begriffe zur Struktur des Sprintschrittzyklus
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Im Gegensatz zur Aktivität der IM fällt die Aktivität des VM eher bescheiden aus: Neben einer schwachen Aktivität während des Beinstreckens vor der Stützphase kontrahiert er in einer Zeitspanne von 40 ms vor dem Stützfassen kräftig, um das Auffangen und Abstützen der Körpermasse rechtzeitig vorzubereiten. Danach fällt die Aktivität in der Stützphase sehr schnell ab. Daraus läßt sich folgern, daß die innere Spannung, die der VM durch diese kurze Aktivität aufgebaut hat, ausreicht und eine genügend lange Zeit überdauert, um die IM bei ihrer Arbeit in der Stützphase (WIEMANN 1989) zu unterstützen. Für eine reflektorische Aktivität, wie sie in einem Dehnungs-Verkürzungs-Zyklus rund 20 ms nach einer schnellen Dehnung (hier: leichtes Beugen im Knie zu Beginn der Stützphase) auftreten kann, gibt es keinen Anhaltspunkt.

Die Aktivität des GM beginnt sogar noch etwa 20 ms früher als die der IM und begleitet die gesamte Phase des „Schwungzuges“ und Stützfassens. Damit zeigt es sich, daß der GM die IM bei der Hüftstreckaktion unterstützt. Zusätzlich erfüllt er in der Stützphase eine stabilisierende Aufgabe, indem er verhindert, daß das Becken der Schwungbeinseite unter der Wirkung der Schwerkraft nach unten sinkt.

Nun zum Adduktor! Dieser Muskel zeigt im Laufe des Sprintschrittes gleich zwei Aktiv!tätsphasen. Die eine tritt gleichlaufend mit den Aktivitäten des GM und der IM während der aktiv greifenden Abwärtsbewegung des Beines nach dem Kniehub auf und deutet somit die Unterstützung besonders des GM beim Hüftstrecken an. DieseAktivität des AM beginnt zeitgleich mit dem Einsetzen der Aktivität der IM, endet aber etwa 20 bis 40ms vor dem ersten Bodenkontakt. Das frühe Einstellen der Kontraktion ist offensichtlich darauf zurückzuführen, daß die hüftstreckende Wirkung des AM mit größer werdendem Hüftwinkel abnimmt. Die andere Aktivitätsphase des AM beginnt gegen Ende der Stützphase und reicht bis zum Ende der Hinterschwungphase. Damit wird deutlich, daß am Ende der Stützphase sich der Oberschenkel so weit nach hinten an der Ursprungsstelle des AM vorbeibewegt hat, daß der AM jetzt eine hüftbeugende Wirkung ausübt, die für eine schnellkräftige Vorschwungbewegung genutzt wird.

Auffallend am EMG der Abbildung 2 ist einerseits der deutliche Wechsel der Muskelaktivitäten mit aktivitätslosen Phasen von mindestens 100 ms Dauer, die es dem neuromuskulären System erlauben, sich kurzfristig zu entspannen und zu erholen. Augenfällig. ist andererseits, wie sich die Abschnitte stärkerer Aktivitäten auf den Schrittzyklus verteilen. Diese liegen nämlich nicht in der Stützphase, in der man die Übertragung der körpereigenen Kräfte auf die Laufbahn erwarten muß, sondern in der gesamten Phase des „Schwungzuges“ (s. Abbildung 3), beginnend etwa 160 ms vor dem Stützfassen. Sie klingen entweder schon vor der Stützphase (beim AM) oder erst im Laufe der Stützphase (beim GM) aus oder überdauern die gesamte Stützphase (bei den IM). Offensichtlich muß die gesamte Beinbewegung – angefangen im Gipfelpunkt des Kniehubes bis zum Lösen des Fußes nach der Stützphase – als eine durchlaufende Bewegungseinheit mit einer schlagend/greifend/ziehenden Charakteristik angesehen werden, die das Ziel verfolgt, den Fuß mit möglichst hoher, relativ zum Rumpf gesehener „Rückwärts“geschwindigkeit auf den Boden zu setzen und möglichst ohne Geschwindigkeitsverlust unter dem Körper durchzuziehen. Diese Überlegung entspricht den Befunden von AE et al. (1992), die einen Zusammenhang zwischen der „back swing velocity“ des Fußes unmittelbar vor dessen Aufsetzen und der Sprintgeschwindigkeit feststellen, aber keinen die Sprintgeschwindigkeit determinierenden Einfluß der Streckgeschwindigkeit von Fuß und Kniegelenk aufdecken können.

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Der Anstrengungsgrad der Muskeln beim Sprint

Ein System von Muskelschlingen (Muskelketten) ist stets so leistungsfähig wie sein schwächstes Glied (s. dazu auch WIEMANN 1989). Haben alle Muskeln einer Schlinge gleiche Kraftpotenz, wird ihr Anstrengungsgrad beim Lösen einer Bewegungsaufgabe entsprechend ausgewogen sein und keinen Einzelmuskel überfordern.
Das EMG der Abbildung 2, so anschaulich es das Kontrahieren und Relaxieren ein und desselben Muskels wiedergeben mag, läßt nicht erkennen, wie sich der eine Muskel im Vergleich zu einem anderen anstrengt, d.h. wie hoch sein Aktivitätsgrad ist; denn zwischen den aktivierten Muskelfasern und den Elektroden an der Hautoberfläche liegt bei den einzelnen Muskeln unterschiedlich starkes Bindegewebe, das neben anderem dafür verantwortlich ist, daß die Muskelaktionspotentiale unterschiedlich stark gedämpft an den Elektroden ankommen. Aus diesem Grunde vergleicht man nicht die absoluten Beträge der Aktionspotentiale (Dimension in mV), sondern man setzt die elektrischen Aktivitäten der untersuchten Aktionen mit denjenigen in Beziehung, die derselbe Muskel bei einer maximalen isometrischen Willkürkontraktion (MVC) produziert. Dadurch erhält man einen Referenzwert, der die quantitative Einschätzung des relativen Grades der Anstrengung (der Aktivität) dieses Muskels bei definierter dynamischer Beanspruchung ermöglicht.
In Abbildung 4 sind die elektrischen Aktivitäten eines jeden untersuchten Muskels des Sprintschrittes von Abbildung 2 in Prozent der Aktivität einer MVC desselben Muskels, die von dem betreffenden Athleten kurz vor dem Sprint aufgezeichnet wurde, umgerechnet. Dieses „%-EMG“ erlaubt einige bemerkenswerte Beobachtungen:
– Alle untersuchten Hüft- und Kniestreckmuskeln übersteigen mit ihren höchsten Aktivitäten deutlich die 100-%-Grenze. Das heißt, sie zeigen einen höheren Aktivitätsgrad bzw. einen höheren Grad der Anstrengung als bei einer MVC. Daß für diese Aktivitätssteigerung eine Erhöhung der Entladungsrate der motorischen Einheiten durch spinale Dehnungsreflexe (SCHMIDTBLEICHER et al. 1978) verantwortlich ist, muß in den vorliegenden Fällen bezweifelt werden, da kein zeitlicher Zusammenhang zwischen einer dynamischen Dehnung und dem Auftreten der Aktivitätserhöhung festgestellt werden kann. Man kann deshalb vermuten, daß beim vollen Sprintlauf vorwiegend eine Hirnprogrammsteuerung (unter möglicher Einbeziehung von Reflexmechanismen höherer Ordnung) die motorischen Einheiten veranlaßt, mit höheren Entladungsraten als bei einer MVC zu feuern, und/oder auch solche motorische Einheiten rekrutiert, die zwar bei diesem dynamischen Grundmuster des „maximal schnellen Laufens“, nicht aber bei einer isometrischen MVC aktiviert werden. Besonders augenfällig ist die gleichbleibend hohe und ausgedehnte Aktivität der IM, was einmal mehr die Bedeutung dieser Muskelgruppe für den Sprint verdeutlicht.

Abb. 4: Aktivitätsgrad (%-EMG) der Hüft- und Kniestreckmuskeln eines 10,4-Sprinters im Laufe des Sprintschrittzyklus des rechten Beines von Abbildung 2. Jede der 20 Einzelphasen entspricht einer Zeitspanne von rund 25 ms.
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– Während der GM, die IM und der VL sich abgesehen von der Aktivitätsdauer – nur unwesentlich im Aktivierungsgrad unterscheiden, muß sich der AM bedeutend mehr anstrengen als die übrigen Muskeln. Das gilt unabhängig von der Klärung der Frage, ob die Aktivitätsmaxima reflektorisch oder durch Hirnprogramme verursacht sind. Demzufolge erfüllt der AM des untersuchten Sprinters für die Erzeugung der Sprintschritte herausragende Aufgaben, und/oder er ist im Vergleich zu den anderen untersuchten Muskeln für die zu erledigenden Aufgaben zu schwach und aus diesem Grunde besonders hoch beansprucht. Beide Schlußfolgerungen sollten als Konsequenz ein gezieltes Training für den AM in seiner Funktion als Hüftstrecker bzw. vor allem als Hüftbeuger fordern.
Selbstverständlich ist es nicht zulässig, aus der Beobachtung nur eines Athleten derart weitreichende Schlußfolgerungen zu ziehen. Aus diesem Grunde wurden insgesamt zwölf Sprinter mit einer durchschnittlichen 100-m-Bestzeit von 10,57 s, darunter auch die amtierenden deutschen Meister über 100 m und 200 m, untersucht. Das %-EMG der Abbildung 5 zeigt die über alle zwölf Sprinter gemittelten Anstrengungsgrade während eines Sprintschrittes direkt vor Erreichen der 50-m-Marke. Im Vergleich zu Abbildung 4 sind – bedinnt durch die Einflüsse der verschiedenen individuellen Besonderheiten – die Aktivitätsverläufe ausgeglichener („verwaschener“), aber die vorn gezogenen Schlußfolgerungen werden uneingeschränkt bestätigt.

Abb. 5 (links): Aktivitätsgrad (%-EMG) der Hüft- und Kniestreckmuskeln des rechten Beines beim vollen Sprintlauf. Mittelwert je eines Sprintschrittzyklus von 12 Sprintern
Abb. 6 (rechts): Vergleich des Aktivitätsgrades (%-EMG) beim „Austrudeln“ (schwarze Säulen) und beim vollen Sprintlauf (schraffierte Säulen), jeweils Mittelwert von 12 Sprintern
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Um einen Eindruck davon gewinnen zu können, welche der registrierten Aktivitäten direkt mit der Erzeugung und Aufrechterhaltung der Sprintgeschwindigkeit in Verbindung gebracht werden können, wurden die untersuchten zwölf Sprinter gebeten, nach Erreichen der 50-mMarke den vollen Sprintlauf abzubrechen und entspannt „auszutrudeln“. Die ersten dieser „Austrudelschritte“, diejenigen Schritte also, die noch nahezu bei Höchstgeschwindigkeit, aber nicht mehr unter dem Zwang des maximalen Beschleunigens ausgeführt wurden, liefern ein aufschlußreiches“ %-EMG“ zum Anstrengungsgrad der Sprintmuskeln. Abbildung 6 vergleicht den Anstrengungsgrad der untersuchten Muskeln (Mittelwert der 12 Sprinter) beim Austrudeln (schwarze Säulen) mit dem Anstrengungsgrad beim vollen Sprintlauf (schraffierte Säulen). Dieser Vergleich ermöglicht folgende Rückschlüsse:

– Vor allem die Anstrengungsgrade der HüftstreckmuskeIn GM, AM und lM sind beim Austrudeln reduziert und dies im besonderen in der Phase, die am Ende des Kniehubes beginnt, also während des aktiv-dynamischen Abwärtsbewegens des jeweiligen Vorderschwungbeines bis zum Stützfassen. Dies gibt einen Hinweis darauf, daß dieser Phase eine besondere Bedeutung für die Schaffung des Vortriebes beim Sprint im Gegensatz zu unbeschleunigten Laufschritten zukommt.

– Von den Hüftstreckmuskeln zeigen die IM beim Austrudeln über einen besonders ausgedehnten Bereich des Schrittzyklus reduzierte Anstrengungsgrade – entsprechend dem Verlust ihrer Vortrieb erzeugenden Aufgabe.

– Der Vergleich der Aktivitätsniveaus des GM mit denen des AM und VM macht deutlich, daß der GM beim vollen Sprintlauf zwei Funktionen erfüllt. Zum einen hat er zeitgleich mit dem AM (und natürlich auch mit den IM) die Hüfte dynamisch zu strecken – zwecks Erzeugung einer hohen „back swing velocity“ -, eine Aufgabe, die sich beim Austrudeln naturgemäß erübrigt. Zum anderen muß er in Zusammenarbeit mit dem VM zu Beginn der Stützphase den Stütz sichern, eine Aufgabe, die beim Austrudeln nahezu die gleichen Anforderungen an das Aktivierungsniveau von GM und VM stellt wie beim vollen Sprintlauf (s. Abbildung 6) – und die deshalb beim Austrudeln keine wesentliche Reduktion im Anstrengungsgrad zuläßt.

– Auch die Aktivität des AM in der Hinterschwungphase präsentiert sich beim Austrudeln in wesentlich reduzierter Stärke. Rückschließend auf den vollen Sprintlauf läßt dies die Bedeutung des AM für einen dynamischen Kniehub erkennen.

– Eindeutig entfaltet der VM beim vollen Sprintlauf nicht – wie von der orthodoxen Lehrmeinung vertreten – in der Phase des Hinterstützes vortriebsfördernde Aktivitäten, die sich von denjenigen beim Austrudeln unterscheiden könnten. Statt dessen scheint der VM beim vollen Sprintlauf eher – wenn auch mit nur mittlerem Anstrengungsgrad – nahezu in der gesamten Schwungphase einen gewissen Beitrag zum dynamischen Ausgreifen des jeweiligen Vorderschwungbeines zu leisten.

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Es kann zusammengefaßt werden:

Die Ergebnisse elektromyografischer Untersuchungen geben ausreichende Hinweise dafür, daß der AM zusammen mit dem GM eine zügelartige Muskelschlinge bildet (Abbildung 7), die das Bein während des Sprintschrittes – beginnend am Ende des Kniehubes – aktiv-dynamisch abwärtsbewegt und für eine große, in bezug zum Rumpf rückwärtsgerichtete Auftreffgeschwindigkeit des Fußes sorgt. Dabei unterstützt dieser Zügel den von den IM gebildeten Zügel (Abbildung 7). Während jedoch der IM-Zügel im Verlauf der gesamten Bewegung – vom Ende des Kniehubes über das Stützfassen und Durchziehen bis zum Anfersen nach der Stützphase – in nahezu konstantem Anstrengungsgrad aktiv bleibt und damit seine herausragende Bedeutung für die Erzeugung des Vortriebes beim Sprint erkennen läßt, endet die Funktion des AM-GM-Zügels beim Obergang zur Stützphase. Zu diesem Zeitpunkt, in dem der AM seine Aktivität beendet, wechselt der GM seinen Partner und seine Aufgabe, um zusammen mit dem VM den Stütz zu sichern, eine Beanspruchung, die beide Partner jedoch nur für den ersten Teil der Stützphase beschäftigt. Außer der Vorbereitung des Stützfassens und der Sicherung des Stützes scheint der VM keine vortriebserzeugenden Funktionen zu erfüllen.
Die gesamte Phase vom Beginn der Abwärtsbewegung bis zum Lösen des Fußes vom Boden am Ende der Stützphase sollte als einheitliche Aktion angesehen und als Zugphase bezeichnet werden. Sie läßt sich in einen stützlosen Teil, den Schwungzug, und einen Teil mit Bodenkontakt, den Stützzug (s. Abbildung 3), zergliedern. Beide Teile bilden – wohl gemerkt eine dynamisch funktionelle Einheit. Die Zugphase ist der Schwungphase gegenüberzustellen, in der das Bein nach einem kurzen Ausschwingen (Ausschwung, s. Abbildung 3) bis zum höchsten Punkt des Kniehubes nach vorn geschwungen wird (Kniehubschwung, s. Abbildung 3). Sowohl zu Beginn der Schwungphase als auch in der Schwungzugphase scheint der AM besondere, sowohl hüftstreckende als auch hüftbeugende Aufgaben zu erfüllen und in der untersuchten Stichprobe an seine Leistungsgrenzen zu stoßen. Schwung- und Zugphase beider Beine alternieren in der bekannten Scherbewegung.

Abb. 7 (links): Becken von unten bei einer Beinposition, die dem Vorderstütz entspricht. Pfeil: Zugrichtung des Stützbeines in der Stützphase. gm = M. glutaeus maximus, os = Kreuzbein. Übrige Abkürzungen s. Abb. 1.
Abb. 8 (rechts): Trainingsformen zum Sprint, Erläuterungen im Text
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Folgerungen für das Sprinttraining

Die Konsequenzen aus den Ergebnissen der elektromyografischen Untersuchungen richten sich sowohl an ein Techniktraining als auch an die verschiedenen Formen des Krafttrainings. Für das Techniktraining fordern die Ergebnisse die spezielle Schulung des direkt an den Kniehub anzuschließenden aktiven, explosiven Herabbewegens des Beines zum Stützfassen. Dabei sollte die Abwärtsbewegung „fugenlos“ in das „Bodengreifen“ und Durchziehen übergehen – zu einer Bewegung, die wir vom Rollerfahren kennen und hier sogar trainieren können (Abbildung 8a). Der Nachteil des Rollerfahrens ist jedoch seine „Einseitigkeit“ – im wahrsten Sinne dieses Wortes. Um die gesamte Zugbewegung zum Ziel einer größeren Sprintspezifität alternierend üben zu können, wäre ein „Wassertreten“ zu empfehlen: Im Unterarmstütz oder Oberarmhang über einer Wasserfläche gilt es, in möglichst raschen alternierenden Bewegungen des Rollerfahrens (evtl. mit Gewichtsmanschetten an den Beinen) das Wasser mit den Fußsohlen von der Oberfläche nach hinten wegzuspritzen (Abbildung 8b). Der findige Trainer wird sich Variationen, den Gegebenheiten seiner Trainingsstätte entsprechend, einfallen lassen.

Im Sektor Krafttraining müssen die Muskeln, die das Greifen und Ziehen bewerkstelligen, GM, AM und IM, speziell beansprucht werden und dies am zweckmäßigsten in denjenigen Winkelbereichen, in denen beim Sprintlauf die maximalen Aktivitäten erscheinen. Hier wird gemäß den Befunden der AM das meiste „Futter“ benötigt, um seiner besonderen Belastung beim Sprint gerecht zu werden. Ob sich jedoch das Training reiner Adduktionsbewegungen etwa an der Adduktionsmaschine – für den Sprint auszahlt, muß erst die Trainingspraxis in Erfahrung bringen. Da – wie durch die Elektromyografie nachgewiesen – bei der Hüftstreckbewegung der AM ebenfalls aktiviert ist, sollten Hüftstreckbewegungen sowohl den GM als auch den AM beanspruchen. Der sprintlaufspezifische Hüftgelenksektor wäre der Winkel von 90° bis 160° (jeweils der Winkel zwischen der Rumpflängsachse und der Oberschenkellängsachse; s. Abbildung 8c), also der Hüftwinkel vom Ende des Kniehubes bis zum Mittelstütz (Abbildung 3). Die IM lassen sich in der üblichen Weise am Beincurl oder – sprintlaufspezifischer – an der Kickmaschine über den gesamten Gelenkwinkelbereich vom Ende des Kniehubes bis zum Hinterstütz beanspruchen.
Der AM benötigt ein zusätzliches Training in Form von Hüftbeugebewegungen. Hier liegt der sprintlaufspezifische Sektor im Hüftwinkelbereich von 200° (Ende Hinterstütz) bis etwa 150° (Ende des Hinterschwunges; s. Abbildung 7d), in dem nicht nur der AM, sondern – uns vorliegenden elektromyografischen Befunden zufolge – auch die Hüftbeuger M. tensor fasciae latae, M. rectus femoris und M. sartorius die maximale Aktivität während des Sprintschrittes erkennen lassen.

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Literatur

AE, MATO, A./SUZUKI,M.: The men’s 100 meters. New Studies in Athietics 7 (1992) 1, S. 47-52

MANN, R.A./MORAN, C.T:/DOUGHARTY, S.E.: Comparative electromyography of the lower extremity in jogging, running and sprinting. American Joumal of Sports Medicine 14 (1986) 6, S. 501-510

RAUBER/KOBSCH: Anatomie des Menschen. Bd. 1. Bewegungsapparat. Stuttgart 1987

SCHMIDTBLEICHER, D./DIETZ, V./NOTH, J./ANTONI, M.: Auftreten und funktionelle Bedeutung des Muskeldehnungsreflexes bei Lauf- und Sprintbewegungen. Leistungssport 8 (1978) 6, S. 480-490

SCHMOLINSKY, G. (Hrsg.): Leichtathletik. Berlin 1980

TIDOW, G.: Modell zur Technikschulung und Bewegungsbeurteilung in der Leichtathletik. Leistungssport 11 (1981) 4, S. 264-277

WIEMANN, K.: Die ischiocruralen Muskeln beim Sprint. LdLa (1989) 28, S. 763-786 und 816-818

WIEMANN, K.: Präzisierung des LOMBARDschen Paradoxons in der Funktion der ischiocruralen Muskeln beim Sprint. Sportwissenschaft (1991) 4, S. 413428 [download]

WINTER, E.M./BROOKES, F.B.C.: Electromechanical response times and muscle elasticity in men and women. European Joumal of Applied Physiology 63 (1991) 2, S. 124-128

 

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