5. „Paradoxe Funktionen“ zweigelenkiger Skelettmuskeln

Projektleiter: Prof. Dr. Klaus Wiemann
Projektzeitraum: 1985-90

lompa Abbildung 1

Kurzcharakterisierung des Projektes:

Bei dem Vergleich des physiologischen Querschnittes der ischiokruralen Muskeln mit den im Kniegelenk durchzuführende Aufgaben, die von diesen Muskeln im Laufe der Alltagsmotorik im Allgemeinen erwartet werden (Beugen der Kniegelenke), fiel auf, dass das enorme maximal mögliche Muskelkraftmoment in keinem logischen Verhältnis zu dem zu bewältigenden vergleichsweise geringen Lastmoment z.B. beim Beugen der Knie in der Schwungphase im Laufe von Geh- und Laufzyklen steht. Aus diesem Grunde musste vermutet werden, dass den ischiokruralen Muskeln in der Alltagsmotorik zusätzliche, bis her nicht erkannte Aufgaben zufallen oder ihre Wirkungsweise nicht zutreffend eingeschätzt wurde. Bei entsprechenden Literaturrecherchen wurden Beiträge von Lombard (1903), Gregor et al.(1985) und ANDREWS (1987) gefunden, die einen Erklärungsansatz auch für das Problem der Funktion der ischiokruralen Muskeln beim Sprint liefern konnten.

Zweigelenkigen Muskeln wird in verallgemeinernden Darstellungen in der Regel eine solche Funktion auf die betroffenen Gelenke beigemessen, die auch jeweils ein eingelenkiger Muskel auf diese Gelenke ausüben würde. Im Gliedersystem der folgenden Abbildung 1 wird der eingelenkige Muskel m1 bei einer Verkürzung das Gelenk A beugen, der eingelenkige Muskel m2 das Gelenk B strecken. Man erwartet demnach von dem zweigelenkigen Muskel m3 bei einer Verkürzung ebenfalls eine Beugung des Gelenks A und eine Streckung des Gelenks B. Dies wird, solange sich die beiden Enden der kinematischen Kette ungehindert bewegen können, in der Regel auch der Fall sein. Sobald aber diese Enden auf einen Widerstand stoßen oder – wie es FISCHER (1927) ausdrückt – einer „Führung“ unterliegen, kann unter noch aufzuzeigenden Zusatzbedingungen je nach Winkelstellung des Gelenks, Wirkungsrichtung der Muskelkraft und Art des Widerstandes eine Verkürzung des Muskels m3 eine der Erwartung entgegengerichtete Wirkung zur Folge haben, etwa in Gelenk A eine Streckung oder in Gelenk B eine Beugung. Dieses offensichtlich paradoxe Phänomen wurde von LOMBARD 1903 beschrieben und wird aus diesem Grunde gelegentlich LOMBARDsches Paradoxon genannt (s. z.B. GREGOR u. a. 1985; ANDREWS 1987).

Um die Wirkungsweise der ischlocruralen Muskeln sowie der Wadenmuskeln (M.gastrocnemius) auf die beteiligten Gelenke Im Laufe der Stützphase des Sprints demonstrieren zu können, konstruierten wir ein Hebelmodell, das In Abbildung 2 schematisch dargestellt Ist (s. auch: Wiemann 2000). Die Dimensionen wurden nach umfangreichen Vergleichen von Röntgenaufnahmen und nach anthropometrischen Erhebungen an 11 konservierten Leichen festgelegt. Bringt man das Fußgelenk In eine Position wie sie dem Mittelstütz des Sprints entspricht, erkennt man neben einer Hüftstreckung auch eine Kniestreckung (Abbildung 2b) , bedingt durch den Gummizug, der die ischiokruralen Muskeln darstellt. Das bedeutet: Unter der Bedingung der geschlossenen kinematischen Kette wirkt die ischiokrurale Muskulatur nicht kniebeugend, sondern – im Zusammenspiel mit dem äußeren Widerstand – kniestreckend. Das gilt in gleichem Maße auch für Positionen im Bereich des Vorderstützes (Abbildung 2c) und des Hinterstützes und ebenfalls für einen Gummizug, der die Wadenmuskulatur darstellt (Abbildung 2d). Fixiert man am Modell das Hüftgelenk und bringt man das Modell In eine Position, die dem Vorderstütz entspricht, zieht der Gummizug der ischiokruralen Muskeln das Bein nach hinten (Abbildung 2e). Die Reibung des Fußes auf der Bodenleiste genügt als Führung, um im Kniegelenk eine streckende Wirkung zu erzeugen. Erst wenn die Reibung gegen Ende der Stützphase nachlässt, wird das Kniegelenk gebeugt.

Um die Ergebnisse der Beobachtungen des Modells zu überprüfen, erstellten wir ein mathematisches Programm, das es erlaubt, die Veränderung der Länge der ischiokruralen Muskeln während eines Sprintzyklus zu bestimmen, und das auf der Grundlage der Vektorenzerlegung berechnet, in welcher Kniewinkelposition beim Sprint die kniebeugende Wirkung der ischiokruralen Muskeln in eine kniestreckende Wirkung übergeht.

lompa2

Abbildung 2: Hebelmodell zur Demonstration der Wirkung der ischiokruralen Muskeln (i), der Kniestrecker (v) und des Zwillingswadenmuskels (g) in der Stützphase des Sprints. Gs: Gleitschiene

 Detaillierter Bericht: WIEMANN, K.: Präzisierung des LOMBARDschen Paradoxons in der Funktion der ischiocruralen Muskeln beim Sprint. (pdf-Datei)

Weitere Forschungsprojekte zur Muskelaktivität beim Sprint: s. Sprint: Bewegungsanalyse und Leistungsoptimierung!

 

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Publikationen zum Projekt:

WIEMANN, K. (1986): Die Muskelaktivität beim Laufen. Leistungssport, 4, 16, S. 27-31.

WIEMANN, K. (1989): Die ischiocruralen Muskeln beim Sprint. Die Lehre der Leichtathletik, 27: 783-786 und 28: S. 816-818.

JÖLLENBECK, T./ HAHN, K./ WIEMANN, K. (1990): Kraft- und Dehnungstraining der ischiocruralen Muskeln zur Verbesserung der Sprintleistung. In: BRÜGGEMANN, G.-P./RÜHL, J.K. (eds.): „Technics in athletics“ – Cologne, 7.-9. June 1990. Conference proceedings, volume 2. Köln: Sport und Buch Strauß – Edition Sport: 479-485.

WIEMANN, K. (1990): Paradoxe Muskelaktionen beim Sprint – Konsequenzen für die Sprinttechnik. In: BRÜGGEMANN, G.-P./RÜHL, J.K. (eds.): „Technics in athletics“ – Cologne, 7.-9. June 1990. Conference proceedings, volume 2. Köln: Sport und Buch Strauß – Edition Sport, 470-478.

WIEMANN, K. (1991): Die Funktion der ischiocruralen Muskulatur beim Sprint und die Bedeutung für das Techniktraining. In: DAUGS/ MECHLING/ BLISCHKE/ OLIVIER (Hrsg.): Sportmotorisches Lernen und Techniktraining. Schorndorf: 270-274.

WIEMANN, K. (1991): Präzisierung des LOMBARDschen Paradoxons in der Funktion der ischiocruralen Muskeln beim Sprint. In: Sportwissenschaft 4: 413-428. [abstract] [download (pdf-Datei)]

WIEMANN, K. (1991): Die Funktion der ischiocruralen Muskeln beim Sprint und die Bedeutung für das Techniktraining. In: DAUGS, R. u.a. (Hrsg.): Sportmotorisches Lernen und Techniktraining. Internationales Symposium MOTORIK- UND BEWEGUNGSFORSCHUNG in Saarbrücken im August 1989, Schorndorf: S.270-274.

WIEMANN, K./ TIDOW, G. (1994): Die Adduktoren beim Sprint – bisher vernachlässigt ?. Leichtathletik 33, 10, (Lehrbeilage 7, 94, S.15-18). [download]

WIEMANN. K. (1995): Die ischiokrurale Muskulatur. In: CARL, K., QUADE, K., STEHLE, P. (Hersg.): Krafttraining in der sportwissenschaftlichen Forschung. Bundesinstitut für Sportwissenschaft, Köln: 83-119. [download]

WIEMANN. K. (2000): Modell zur Verdeutlichung der Funktion ein- und zweigelenkiger Muskeln. In: Nicol/Peipenkamp (Hrsg.): Apparative Biomechanik – Methodik und Anwendungen. Schriften der dvs, Band 115. Hamburg: Czwalina, 2000, S. 39 – 44 [download]

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