aus: Die Leibeserziehung. 19. Jahrg. (1970), Heft 5, 145-148 

Die Ontogenese des aufrechten Ganges - ein Lern- oder Reifungsprozeß

KLAUS WIEMANN

Die vergleichende Verhaltensforschung und die Entwicklungspsychologie haben in neuester Zeit in der Frage zur Genese des aufrechten Ganges des Menschen einen Standpunkt bezogen, der es angebracht erscheinen läßt, die diesbezügliche Stellung der "Sportwissenschaften", speziell der Bewegungslehre, erneut zu überprüfen. Zwar setzt die Arbeit des Leibeserziehers erst in einem Alter des Kindes ein, in dem sich die motorischen Grundtätigkeiten schon voll ausgebildet haben, die Kenntnis über die Entwicklungsgrundlagen der Lokomotionsformen kann aber für viele Bereiche der Sportwissenschaften (Anthropologie, Methodik, orthopädisches Turnen, Sportpsychologie und -psychiatrie, u. a. m.) von Bedeutung sein.

Der momentane Standpunkt der Bewegungslehre soll durch zwei Beispiele aufgezeigt werden: FETZ [4] wendet sich gegen die Auffassung STREICHERS [9], "...daß die Grundtätigkeiten (Gehen, Laufen, Schieben, Tragen usw.) gewissermaßen Erbgut des Menschen darstellen und auf alle Fälle zur Entfaltung gelangen...“ ([4], S. 216). FETZ gesteht zwar zu, "...daß im Zentralnervensystem gewisse Innervationsmuster für die Bewegungsausführung vorgeformt vorhanden sein müssen...“ ([4], S. 218), rechnet aber nur einfachste Verhaltensformen wie Saugen, Schlucken und Schreien zu den rein angeborenen Bewegungsweisen, deren Charakteristikum "...ihr sicheres Funktionieren auch schon bei der ersten Produktion..." ([41, S. 218) sein soll. FETZ stützt sich bei seiner Auffassung einerseits auf Berichte über sogenannte Wolfskinder (feral children) und "ihre meist vierfüßige Fortbewegungsweise“ ([41, S. 216), andererseits auf PORTMANN und BUYTENDIJKG, nach denen das Aufrichten des Menschen und die Eigenart der menschlichen Motorik Kulturergebnisse sein sollen ([4], S, 216 f). FETZ folgert, daß der Mensch "...zu seiner normalen Entwicklung (in Haltung und Bewegung) außer seinem Körper den artgemäßen Umgang, das Vorbild und eine gewisse soziale Wärme..." ([4], S. 216) braucht.

Eine ähnliche Auffassung läßt sich bei MEINEL [5] finden: "Als determinierend für die Bewegungsentwicklung im ersten Lebensjahr muß der Prozeß der Auseinandersetzung des Kindes mit seiner Umwelt angesehen werden. Die einzelnen Funktionen können sich nur in der Tätigkeit entwickeln und nicht spontan reifen" ([5] S. 276). Als wichtige Faktoren für eine normale motorische Entwicklung während des ersten Lebensjahres werden genannt: 1. Das Kind muß sich "...in einer seinem Entwicklungsstand entsprechenden Umgebung frei bewegen können...“ ([5] S. 274), und 2. es muß "...vor allem im 2. Halbjahr wesentliche aktive Unterstützung ... durch die Erwachsenen..." ([5] S. 275) erfahren. In dem 2. Punkt geht also MEINEL in der Beurteilung der Abhängigkeit der motorischen Entwicklung des Kindes noch einen Schritt weiter als FETZ. Während letzterer nur das Vorhandensein eines Vorbildes und den artgemäßen Umgang als Bedingungen für die Entwicklung der motorischen Grundformen wertet, ist nach MEINEL die Entwicklung des Kindes sogar von der aktiven Hilfe der Erwachsenen abhängig. Das bedeutet zusammengefaßt: Für beide Autoren ist die Grundtätigkeit "Gehen" keine angeborene Verhaltensweise, sondern muß unter Sammlung von Erfahrung durch Auseinandersetzung mit der mechanischen Umwelt und durch Unterstützung seitens der sozialen Umwelt erlernt werden. Bevor dazu kritisch Stellung genommen wird, sollen einige Forschungsergebnisse und Beobachtungen der Verhaltensforschung und Entwicklungspsychologie beschrieben werden.

Eine zusammenfassende Darstellung verschiedener Tierexperimente gibt TINBERGEN [10]: Zur Entscheidung der Frage, ob an der Entwicklung der Schwimmbewegungen von Froschlarven Lernvorgänge beteiligt sind, zog CARMICHAEL Froschlaich in Dauernarkose auf. Erst als die gleichaltrige Kontrollgruppe zu schwimmen begann, wurde die Narkose der Versuchsgruppe abgebrochen. Dabei stellte es sich heraus, daß die Schwimmleistung der Versuchstiere derjenigen der Kontrolltiere entsprach ([10] S. 122f.). In ähnlicher Methode hielt GROHMANN Jungtauben in engen Röhren, die ein Entfalten der Flügel - also ein Üben - verhinderten. "Als die Kontrollvögel zum Beispiel 10 m weit flogen, gab er die Gefangenen frei, und beide Gruppen leisteten bei gleicher Flugaufgabe gleiches" ([10] S. 124).

Aus beiden Experimenten läßt sich schließen, daß sowohl grundlegende Abläufe wie das Schwimmen durch Schlängelbewegungen der Amphibien als auch die phylogenetisch jüngere Lokomotionsform des Fliegens angeboren sind. Sie brauchen nicht erlernt zu werden, sondern reifen 1) spontan.

1) Tinbergen [101 unterscheidet zwischen dem Wachstum von Bewegungsweisen, der Entwicklung während der Ontogenese, und der Reifung, der jahreszeitlich wiederkehrenden Entwicklung von Verhaltensweisen durch hormonelle Einflüsse. Da aber andere Autoren wie Lorenz und Eibl-Eibesfeld sowie die Entwicklungspsychologen in der Regel den Begriff Reifung auch für die ontogenetische Ausformung angeborenen Verhaltens benutzen, soll hier auch dieser Begriff zur Anwendung kommen.

 

Im Zuge dieser Ergebnisse sind auch Vergleiche mit der motorischen Entwicklung des Menschen angestellt worden. Natürlich fallen für diesen Bereich Experimente aus den bekannten Gründen weitgehend aus, so daß man sich auf einzelne wissenschaftlich fundierte Berichte über den Einfluß solcher besonderen Umweltsituationen auf die motorische Entwicklung stützen muß, die den einschlägigen Tierexperimenten gleichkommen. OERTER [8] zum Beispiel vermutet auf Grund der heutigen Befunde, daß die Entwicklung des Gehens ein Reifungsvorgang ist. Er erwähnt eine Mitteilung von SCHENK-DANZINGER, daß Kleinkinder in Albanien, die auf Wiegenbrettern festgebunden waren und deshalb keine Erfahrungen durch Betätigung der Gliedmaßen machen konnten, nach dem Losbinden "...innerhalb von wenigen Stunden nachholten, was Kinder normalerweise im Laufe von Wochen und Monaten erwerben..." ([8] S. 16).

In ähnlichem Zusammenhang berichtet MUSSEN [6] über einen Versuch von DENNIS. Letzterer hat ein weibliches Zwillingspaar die ersten 9 Lebensmonate in Rückenlage gehalten, so daß keine Möglichkeit bestand, im Sitzen oder in der aufrechten Stellung Erfahrungen zu sammeln. Es konnte beobachtet werden, daß die Zwillinge die bestehenden Entwicklungsrückstände innerhalb von wenigen Tagen nachholten. Leider ist bei MUSSEN nicht ersichtlich, ob und warum nicht DENNIS einen der Zwillinge zur Kontrolle in normaler Bewegungsfreiheit beobachtet hat. DENNIS berichtet auch, daß die Kinder der Hopi-Indianer, die im ersten Lebensjahr so in Wiegen festgebunden sind, daß sie nur den Kopf bewegen können, zum gleichen Zeitpunkt gehen und laufen können wie die Kinder anderer Stammesgruppen, die nicht festgebunden sind.

DETHIER / STELLAR ([2] S. 96) erwähnen schließlich einen Versuch mit eineiigen Zwillingen, von denen der eine ausführliche Erfahrungen im Treppensteigen sammeln durfte, während der andere auf flachem Boden bleiben mußte. Als man letzteren schließlich auch Treppen steigen ließ, konnte er es - ohne Erfahrung gesammelt zu haben - genauso gut wie der erste.

Diese Berichte stützen weitgehend die Annahme, daß in der Genese der motorischen Grundformen zwischen Tier und Mensch keine allzu großen Unterschiede bestehen. Wie beim Tier scheint auch beim Menschen nicht nur die Struktur, sondern auch die Funktion des Bewegungsapparates genetisch vorbestimmt zu sein. Das bedeutet, daß zusammen mit der Struktur auch die Funktion zur Reifung gelangt. Würde die Entwicklung des aufrechten Ganges ein Lernprozeß sein, wären die oben angeführten Beobachtungen nicht erklärbar; denn es ist nicht denkbar, daß Kinder in wenigen Tagen oder gar Stunden all die Erfahrungen speichern und zu motorischen Stereotypen kombinieren, wozu andere Kinder Wochen und Monate benötigen sollen.

Für FETZs Auffassung, daß die Kinder zur motorischen Entwicklung des Vorbildes der Erwachsenen bedürfen, läßt sich aus mehreren Gründen keine Erklärung finden. Einerseits ist es höchst unwahrscheinlich, daß Kinder oft schon im Alter von 9 Monaten solch komplexe motorische Abläufe wie das Gehen durch Nachahmen lernen können. Andererseits dürften dann solche Bewegungsgrundformen, die sich auch annähernd in dieser Altersstufe entwickeln, für die aber in der Regel kein Vorbild parat ist, eigentlich nicht erlernt werden, wie etwa das Kriechen auf Händen und Füßen. Man könnte dem entgegenhalten, daß möglicherweise zwar die Entwicklung des Kriechens an einen Reifungsprozeß gebunden ist, die des Gehens aber nicht, und daß zum Beispiel die Kinder der Hopi‑Indianer während des ersten Lebensjahres bis zum Freilassen aus der Wiege ausreichend Gelegenheit haben, sich über visuelle Informationen eine Vorstellung vom Bewegungsablauf des Gehens zu bilden. Dann müßte aber erst nachgeprüft werden, ob ein solch komplexer motorischer Ablauf wie das Gehen nur durch - unbewußte - mentale Ubung und dazu in einer Altersstufe erlernt werden kann, in der man denselben Kindern oft vergeblich versucht, einfachere motorische Abläufe durch Vormachen beizubringen.

Die "...meist vierfüßige Fortbewegungsweise...“ ([4] S. 216) wild aufgewachsener Kinder kann in keiner Weise zur Erklärung dieses Problems herangezogen werden. Einerseits sind die vorhandenen Berichte zu wenig fundiert, andererseits liefen in den von BREZINKA [1] erwähnten Fällen, auf die sich FETZ stützt, nur die beiden "Mädchen von Midriapore" bei der Auffindung ausschließlich vierfüßig. Im übrigen ist der entscheidende Mangel all dieser Berichte für das hier zu klärende Problem, daß keine Angaben über diejenige Entwicklungsphase der "Wolfskinder" gebracht werden können, in der sich im Normalfall der aufrechte Gang entwickelt. Darüber hinaus gilt es aus biologischer Sicht als völlig ausgeschlossen, daß sich ein Kind in dieser Altersstufe selbständig am Leben erhalten kann, ja es muß auch bezweifelt werden, daß es mit artfremder Fürsorge überleben kann. Dagegen spricht sowohl die gesamte Verhaltenssituation des Kindes als auch diejenige der vierfüßigen Säuger, die als Ersatzeltern in Frage kommen könnten. Es muß also angenommen werden, daß die wenigen "Wolfskinder", von denen ein einigermaßen glaubhafter Bericht vorliegt, in einer Entwicklungsphase verwilderten, in der sie schon längst aufrecht gehen und laufen konnten, nämlich frühestens mit drei Jahren. Das muß auch für das ältere der beiden "Mädchen von Midnapore" zutreffen. Die möglichen Gründe für die vierfüßige Fortbewegungsweise dieser Mädchen sind so vielgestaltig, daß man sie nicht einfach durch ein Nachahmen vierfüßiger Vorbilder oder durch ein Fehlen des artspezifischen Vorbildes erklären kann. 

Weiterhin muß bezweifelt werden, daß ein Kind mit normalen Verhaltensantrieben beim "Gehenlernen" auf die aktive Unterstützung der Erwachsenen angewiesen ist, wie MEINEL behauptet. Dagegen sprechen tägliche Beobachtung an Kindern, die ohne die geringste Unterstützung und ohne zeitliche Verzögerung zum selbständigen und sicheren Gehen gefunden haben. Die unsinnige Sitte, Kinder bei all ihren motorischen Bemühungen zu stützen und zu führen, bevor sie selbst durch endogene und exogene Antriebe dazu bereit sind, darf nicht als Regel gelten oder gar zur Beweisführung benutzt werden. Diese Sitte - oder Unsitte - kann möglicherweise mit der tradierten Gewohnheit in Beziehung gebracht werden, die Kinder in den ersten Lebensmonaten und in der Regel während des Schlafes, zum großen Teil aber auch während der Wachperioden auf dem Rücken liegen zu lassen. Aus dieser Handhabung erwächst geradezu die Pflicht, die Säuglinge zu ihren ersten lokomotorischen Bemühungen aus der Rückenlage auf den Bauch zu legen. So begründet diese aktive Unterstützung unter dieser speziellen Situation und in diesem Alter ist, so überflüssig erscheint sie einerseits in einer späteren Entwicklungsphase, andererseits aber auch dann während der gesamten Entwicklung, wenn man die folgende Überlegung berücksichtigt: Da einerseits die Bauchlage die Ausgangsposition zu den Lokomotionsformen (Krabbeln - Kriechen - Aufrichten - Gehen) ist, andererseits aber das Kind in dem Alter, in dem es mit dem Krabbeln beginnt, nicht in der Lage ist, sich allein aus der Rückenlage in die Bauchlage zu drehen, muß gefolgert werden, daß die Bauchlage die funktionell richtige Ruhelage ist, aus der die Entwicklung der Lokomotionsformen ohne Hilfe von außen einsetzen kann. (In diesem Zusammenhang ist es interessant zu erfahren, daß einige Autoren [7] auch aus morphologischen, physiologischen und orthopädischen Uberlegungen die Bauchlage als die normale Ruhe- und Schlaflage ansehen.) Die Bauchlage muß demnach beim Säugling als eine verhaltensauslösende Reizsituation gewertet werden, die zum normalen motorischen Verhalten führt. Möglicherweise kann u. a. ein zu seltenes Auftreten dieses speziellen Auslösereizes zu einer gewissen Retardation in der motorischen Entwicklung führen.

Ein äußeres Kriterium, durch das sich die angeborenen von den erlernten Bewegungen unterscheiden lassen, gibt es nicht. Die Tatsache, daß Verhaltensweisen wie Saugen und Schlucken bei der ersten - postnatalen - Produktion sicher funktionieren, Gehversuche aber häufig - wenn auch nicht immer - zu einem Zeitpunkt, in dem der Entwicklungsprozeß noch nicht endgültig abgeschlossen ist, durch besondere Reizsituationen ausgelöst werden können, berechtigt nicht dazu, die erstgenannten Abläufe angeboren, die letzteren aber erworben zu nennen. Denn einerseits ist es denkbar, daß auch die erstgenannten Verhaltensweisen während der pränatalen Entwicklungsphase in unreifer Form produziert werden, andererseits zeigt sich auch bei einem Vergleich mit der motorischen Entwicklung der Tiere, daß angeborenes Verhalten wie etwa das Fliegen der Vögel (s. oben) sehr häufig in unreifen Vorformen produziert werden kann. Letzteres deutet nicht etwa auf ein Erfahrung schaffendes Üben hin, sondern ist die Entladung der Bewegungsantriebe und hat einen speziellen biologischen Wert.

Einen letzten Beitrag zur Klärung unseres Fragenkomplexes liefert die biologische Tatsache, daß im Tierreich alle Verhaltensweisen, die nicht angeboren sind, in der mannigfaltigsten Weise modifiziert werden. In ähnlicher Weise ist der Mensch bestrebt, "...kulturell alles abzuwandeln, was überhaupt wandelbar ist..." ([3] S. 61). Als Beispiel soll nur auf die geschichtliche Entwicklung der verschiedenen Sprachen hingewiesen werden. Wenn aber in allen nur denkbaren Kulturkreisen in gleicher Weise aufrecht gestanden und gegangen worden ist und noch wird, kann die einzig mögliche Folgerung nur sein, daß es nicht gelingen kann, diese Verhaltensweise kulturell abzuwandeln, daß alle Menschen im Hinblick auf diese Verhaltensweisen das gleiche genetische Material besitzen und daß das Erbgut die Entwicklung dieser Lokomotionsformen weitgehend unabhängig von den Umweltsituationen und unabhängig vom Willen und Streben des Menschen verwirklicht.

Nach alldem kann der Standpunkt, daß die Entwicklung des aufrechten Ganges an einen Lernprozeß gebunden - nicht vorprogrammiert - ist, nicht aufrechterhalten werden. Es darf aber nicht darüber hinweggetäuscht werden, daß ein Beweis für die Reifungstheorie des Gehens bisher noch fehlt und aus verständlichen Gründen nicht so leicht zu erbringen ist. Die Vorprogrammierung eines Lebewesens in bezug auf bestimmte Verhaltensweisen muß als eine durch Mutation und Selektion erzeugt stammesgeschichtliche Anpassung gewertet werden. Die Reifung einer Verhaltensform wird biologisch erklärt durch eine zunehmende Ausgestaltung der morphologischen Struktur des Zentralnervensystems. Es gelang COGHILL (nach TINBERGEN [10] S. 125 f.), die Parallelität des Wachstums von Nervenbahnen und der Entwicklung der Lokomotion an Axolotllarven nachzuweisen.

Der Reifungsprozeß einer Verhaltensweise, hier des Gehens, erstreckt sich natürlich nur auf die Grundform des Ablaufes. Um die Fortbewegung auch in verschiedensten Umweltsituationen ungestört ablaufen zu lassen, bedarf es einer aktiven Auseinandersetzung mit der mechanischen Umwelt. Dabei werden Erfahrungen gesammelt und gespeichert, die bei einem neuerlichen Auftreten schon erfahrener Umweltsituationen zur Erstellung des Bewegungsentwurfes verwertet werden. Wie stark der jeweilige Anteil der Reifungs- und Lernprozesse an der Entwicklung der endgültigen Bewegungsform ist, kann mit Sicherheit nicht entschieden werden. Jedoch läßt sich aus dem Kulturvergleich schließen, daß der Anteil der Reifung bei weitem überwiegen muß. Außerdem deutet die Erfahrung, daß Kinder, die bis zu einem relativ hohen Alter (6‑8 J.) durch Krankheit keine Gehversuche machen konnten, nur äußerst mühsam aufrecht gehen lernen, auf die Existenz einer "sensiblen Periode“, einer Entwicklungsphase mit einer besonderen Lerndisposition, für die Ausgestaltung des Gehens hin, außerhalb derer ein Üben weniger Erfolg hat.

Die bedeutendsten Folgerungen all dieser Überlegungen entstehen der Bewegungslehre aus dem Kulturvergleich. Danach muß angenommen werden, daß nicht nur das Gehen, sondern auch andere Grundtätigkeiten wie Laufen, Springen, Werfen, Klettern u. a. m. genetisch vorprogrammiert sind. Wenn aber eine Verhaltensweise genetisch festgelegt ist, dann muß auch damit gerechnet werden, daß sie in einer bestimmten Häufigkeitsrate mutiert. Da aber einerseits der größte Teil aller Mutationsformen einen negativen biologischen Wert im Vergleich zur Ausgangsform besitzt, andererseits beim Menschen dem Mutationsdruck nicht mehr ein Selektionsdruck entgegensteht, muß mit einer zunehmenden Verschlechterung der motorischen Abläufe gerechnet werden. Da gleiches auch für die motorische Intelligenz und für die angeborenen Bewegungsantriebe und Auslösemechanismen gilt, wird vermutlich die allgemeine motorische Leistungsfähigkeit des Menschen beständig abnehmen.

Daraus erwachsen den Sportwissenschaften Fragen, die bisher kaum beachtet wurden und unbedingt einer exakten Prüfung unterzogen werden müßten: Wie läßt sich nachprüfen, ob motorische Minderleistungen auf Erbgut, Bewegungsunerfahrenheit oder mangelnder motorischer Intelligenz beruhen? Läßt sich feststellen, ob eine beobachtete Bewegungsunerfahrenheit umweltbedingt oder von einer Schwäche angeborener Verhaltensantriebe abhängig ist? Lassen sich zur Klärung dieser Fragen allgemeingültige Parameter entwickeln? Wie und in welchem Maße lassen sich Verhaltensantriebe stärken und Körperübungen motivieren? Läßt sich durch Leibesübungen und deren Motivation das gesamte motorische und soziale Verhalten regulierend beeinflussen? Wie und in welchem Maße lassen sich angeborene Minderleistungen kompensieren? Welche Rolle spielen dabei Motivation oder motorische Intelligenz? Läßt sich die motorische Intelligenz durch Training beeinflussen? u. a. m. Es ist durchaus möglich, daß sich mit der Klärung dieser Fragen die Schwerpunkte der leibeserzieherischen Bemühungen verschieben werden.

 

Literatur: 

[1] Brezinka, W.: Verwilderte Kinder ‑ Legende und Wirklichkeit, Die Sammlung, 13. Jahrg. 1956, S. 521 bis 531.

[2] Dethier/Stellar: Das Verhalten der Tiere, Franckhsche Verlagshandlung, Stuttgart 1964.

[3] Eibl-Eibesfeldt, I.: Zum Verhalten des Menschen, Grzimeks Tierleben, Band XI, Kindler-Verlag, Zürich 1969, S. 59‑79.

[4] Fetz, F.: Beiträge zur Bewegungslehre der Leibesübungen, Osterreichischer Bundesverlag, Wien 1964.

[5] Meinel, K.: Bewegungslehre, Volk und Wissen, Berlin 19622.

[6] Mussen/Conger/Kagan: Child development and perscnality, Harper & Row, New York 19664.

[7] Naturwissenschaftliche Rundsdiau 2/1970, S. 67; Kurzbericht: Schlafen in der Bauchlage.

[8] Oerter, R.: Moderne EntwicklungspsychoIogie, Verlag Ludwig Auer, Donauwörth 19695.

 [9] Streicher, M.: Natürliches Turnen, Band V, Verlag für Jugend und Volk, Wien 19612.

[10] Tinbergen, N.: InstinktIehre, Parey Berlin 19664.

 

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