3. Muskeldehnung
Dehnen, Stretching und Flexibilität; Verbesserung der Dehnfähigkeit der ischiokruralen Muskeln; muskuläre Dysbalancen

Inhalt:
Einführung: Begriffe, Definitionen und biologische Grundlagen zur Muskeldehnung
3.1. Effekte des Dehntrainings (Stand der Erkenntnisse – 2015)

3.2. Forschungsarbeiten der Arbeitsgruppe zur Effektivität des Dehnens
3.3. Beweglichkeit im Schultergürtel
3.4 Dehnen zur Leistungsverbesserung im Sprint
3.5 Dehnen zur Verletzungsprophylaxe
3.6 Dehnen im Alltag und in der Trainingspraxis – wozu, wie, wann
3.7 Muskelverkürzung – ein Kapitel für sich
3.8 Arthromuskuläre Balancen, Beeinflussung muskulärer Dysbalancen durch Training (ppt-Präsentation)

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Begriffe, Definitionen und biologische Grundlagen zur Muskeldehnung 

Im Zusammenhang mit der Besprechung der Methoden und Wirkungen des Dehnens ist es notwendig, die unterschiedlichen Eigenschaften und Merkmale des Muskels, die sich auf die Dehnfähigkeit beziehen, zu benennen und zu charakterisiern. Die Benutzung von Begriffen wie „lang“, „kurz“, „verkürzt“, „verspannt“ …helfen nur dann, wenn sie nicht gemäß dem allgemeinen Sprachgebrauch verwendet, sondern operational definiert werden. Das heißt:

Die Eigenschaften und Merkmale des Muskels sind auf der Basis der biologischen Bedingungen derart zu definieren, dass sich ihre Ausprägung mit den zur Verfügung stehenden Methoden – unabhängig von individuellen Meinungen, Wertungen oder Philosophien – objektiv quantifizieren lassen.

Die im Zusammenhang mit der Dehnfähigkeit bedeutsamen muskulären Eigenschaften und Merkmale sind in der folgenden Tabelle zusammengefasst und definiert:

Ein Muskel ist …
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  Die Merkmale der jeweiligen Begriffspaare (z.B.1a und 1b oder 2a und 2b ….) schließen sich gegenseitig aus. Die Parameter 3, 4 und 5 fördern die Merkmale 6 und 7 (s. Abb. 9).
*): Diese beiden Definitionen sind unscharf, weil sie sich auf ein äußerliches, von jedermann erkennbares Kriterium („Neutral-Null-Position der Gelenke) beziehen bzw. beziehen müssen. Ob ein Muskel bzw. seine Sarkomere wirklich gedehnt oder entdehnt sind, lässt sich nur an dem von außen nicht erkennbaren Dehnungszustand der Sarkomere bestimmen. Die „Sarkomer-Neutral-Null-Position“ wäre gegeben, wenn sich die Filamente innerhalb der Sarkomere optimal überlappen, also bei Optimallänge (= Mediallänge) des Muskels (s.u.). Diese lässt sich aber von außen nur grob abschätzen.
**): Ob ein Muskel in all seinen Muskelfasern völlig entspannt ist, lässt sich von außen zweifelsfrei nur durch Elektromyographie bestimmen.

Häufig wird der Begriff „Flexibilität“ im Zusammenhang mit Eigenschaften des Muskels verwendet. Weil sich der Wortstamm des Begriffes „Flexibilität“ auf eine Beugefähigkeit bezieht, ein Muskel sich aber nicht beugen kann, wird der Begriff „Flexibilität“ auf diesen Seiten generell vermieden, um das Entstehen von Missverständnissen zu vermeiden. Muskeln   mögen allenfalls auf dem Wege über ihre Dehnfähigkeit die Flexibilität eines Gelenkes oder des gesamten Körpers verbessern.

Auf diesen Seiten werden die folgenden Definitionen zugrunde gelegt und besprochen:

Beweglichkeit („Mobilität“) ist die Eigenschaft eines arthro-muskulären Systems, Bewegungen der einzelnen Systemabschnitte zueinander mit möglichst großen Amplituden zuzulassen. Die Beweglichkeit des menschlichen Körpers ist die Fähigkeit, im Rahmen der Gelenkigkeit (1), unter Ausnutzung der Dehnbarkeit (2) des inaktiven Muskels und bei optimaler Dehnbelastungsfähigkeit (3) des gedehnten Individuums (Dehnungsschmerz-Toleranz) möglichst große Gelenkreichweiten zu erreichen.

1. Gelenkigkeit ist die Eigenschaft eines arthro-muskulären Systems, unter den vorherrschenden Ausprägungen der knöchernen, kapsulären und gewebsmassebedingten Umgebung des Gelenkes große Gelenkreichweiten zuzulassen. Die Gelenkreichweite wird durch die maximal mögliche Auslenkung eines Gelenkabschnittes aus der Neutralnullposition bestimmt.

2. Dehnbarkeit eines inaktiven Muskels (Muskeldehnfähigkeit) wird geprägt durch die Nachgiebigkeit der Muskel-Sehnen-Einheit gegenüber äußeren dehnenden Kräften (unter Abwesenheit innervationsbedingter Querbrückenbildung). Die Muskeldehnfähigkeit ermöglicht dem arthro-muskulären System, die von der Gelenkigkeit zugelassenen Grenzen der Gelenkreichweiten auszuschöpfen. Der vom gedehnten Muskel abgegebene Dehnungswiderstand (Muskeldehnungsspannung, passive Muskelspannung) steigt mit zunehmender Gelenkreichweite quasi-exponentiell.

3. Die Dehnbelastungsfähigkeit (Dehnungsschmerz-Toleranz) ergibt sich aus der Bereitschaft der dehnenden Person, den im gedehnten Muskel auftretenden Dehnungsschmerz zu ertragen. Diese Fähigkeit ist somit muskelbezogen und gewohnheits- bzw. übungsabhängig.

 

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1. Ursprung-Ansatz-Länge
Die räumliche Ausdehnung (umgangssprachlich: „Länge“) eines Muskels wird bestimmt durch seine Anheftstellen am Skelett, dem Ursprung und dem Ansatz, wobei der Ursprung dem Körperzentrum (bzw. der Körpermittellinie) zugewandt ist und der Ansatz vom Körperzentrum weg weist. Allerdings ist die Ursprung-Ansatz-Distanz eines bestimmten Muskels keine konstante metrische Größe, sondern differiert interpersonell und variiert mit der Gelenkwinkelstellung (Abb. 1). Um deshalb eine vergleichbare Längenangabe zur Verfügung zu haben, sollte die Muskellänge in % Körpergröße angegeben und auf eine genormte Körperhaltung (z.B. die Neutral-Null-Position: aufrechte Körperstellunhg mit herabhängenden Armen) bezogen werden.

Durch die elastische Nachgiebigkeit (Viskoelastizität) des fleischigen Anteils des Muskels, der hauptsächlich durch die Muskelfasern gebildet wird, passt sich der Muskel den unterschiedlichen Gelenkwinkelstellungen an. Die aktuelle Ursprung-Ansatz-Distanz eines Muskels (Muskelmomentanlänge) hängt somit einerseits von der aktuellen Gelenkwinkelstellung ab, wobei die Extremwerte durch die individuellen Ausprägungen in den knöchernen Strukturen der beteiligten Gelenke (Gelenkhöcker, Gelenkfortsätze, Knochenhemmung), durch die Gewebsmasse der benachbarten Körperabschnitte (Massenhemmung) sowie durch die beteiligten Gelenkbänder (Bänderhemmung) bestimmt werden. Da sowohl die knöchernen Strukturen als auch die unelastischen Gelenkbänder in der Regel durch Training nicht beeinflussbar sind (bzw. zur Vermeidung von Gelenkinstabilität nicht beeinflusst werden sollten), ist das durch die Morphologie geprägte Bewegungsausmaß der Gelenke und somit die maximal mögliche Ursprung-Ansatz-Distanz eines Muskels durch Training nicht veränderbar. Diese konstitutionelle Eigenschaft wird als Gelenkigkeit bezeichnet.

 

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Abb. 1: Ursprung-Ansatz-Distanz (rot). a) bis c): eingelenkiger Muskel; d): zweigelenkiger Muskel

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2. Dehnungszustand und Ruhe- bzw. Dehnungsspannung
Wird aus einer mittleren Gelenkwinkelstellung (Abb. 1 b) bzw. aus der Neutral-Null-Position (entspricht dem Gelenkwinkel bei aufrechtem Stand mit hängenden Armen) bei passivem Muskel der augenblickliche Gelenkwinkel durch äußere Einflüsse erweitert, gibt der Muskel nach, er wird „länger“ bzw. gedehnt (Abb. 1 c). Mit zunehmender Muskeldehnung setzt der Muskel der dehnenden Wirkung einen exponentiell ansteigenden Widerstand, die „Dehnungsspannung“ (auch: „Ruhespannung„, „passive Muskelspannung“ bzw. „Ruhedehnungsspannung„, s. Abb. 2, rechts), entgegen, bis dieser Widerstand der äußeren dehnenden Wirkung die Waage hält oder die Gelenkigkeit des Gelenkes erschöpft ist und so eine weitere Vergrößerung der Reichweite verhindert wird. Die endgradige Dehnung eines Muskels kann mit einem schmerzhaften Spannungsgefühl (Dehnungsschmerz) verbunden sein, das das gedehnte Individuum dazu veranlasst, sich einer weiteren Dehnung zu widersetzen, bevor die maximal mögliche Gelenkreichweite erreicht ist. Das Vermögen eines Muskels bzw. einer gedehnten Person, einen bestimmten Grad an Dehnung zuzulassen, wird Muskel-Dehnfähigkeit genannt. Diese lässt sich durch Dehnungstraining erweitern bis an eine durch die Gelenkarchitektur vorbestimmte Grenze (Gelenkigkeit, s.o.!). Das aus Gelenkigkeit und Muskeldehnfähigkeit ermöglichte Bewegungsausmaß bestimmt die „Gelenkreichweite“, auch „range of motion“ (ROM) genannt.

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Abb. 2: rechts: Aufzeichnung der passiven Spannung (Ruhespannung) der ischiokruralen Muskeln im Laufe eines Dehnungsvorganges zur Quantifizierung von Dehnmerkmalen. links: Bestimmung der Ruhespannung (bei apparativer  Ausschaltung der Schwerkraftmomente): Fa: außen gemessener Dehnungswiderstand, ra: Kraftarm des außen gemessenen Widerstandes, rm: Kraftarm der Muskel-Dehnungsspannung (durch topografische Merkmale näherungsweise abzuschätzen), Fm: Dehnungsspannung des Muskels (aus Fa, ra und rm zu berechnen).

Bei Verminderung des Gelenkwinkels (Abb. 1a) zieht sich der fleischige Anteil des vorher gedehnten Muskels aufgrund seiner Elastizität zusammen, der Muskel wird „kürzer“, er entdehnt sich. Gleichzeitig wird der Gegenspieler des ersteren gedehnt. Zur Vermeidung von Missverständnissen sollte man zur Beschreibung der augenblicklichen räumlichen, von der momentanen Gelenkstellung abhängigen Situation des Muskels die Begriffe „gedehnt“ bzw. „entdehnt“ benutzen und nicht Begriffe wie „lang“ und „kurz“ oder „verlängert“ und „verkürzt“, weil diese Begriffe leicht Anlass zu Missdeutungen sein können.
Bei der Bestimmung des Dehnungswiderstandes eines Muskels sind äußere Drehmomente (z.B. Schwerkraftmomente, Dehnungsspannungsmomente der Antagonisten, …), die sich zum Dehnungswiderstand des untersuchten Muskels addieren und diesen verfälschen könnten, zu berücksichtigen und ggf. zu eliminieren. Der Dehnungswiderstand wird als Drehmoment [Nm] gemessen. Daraus lässt sich bei Kenntnis des Muskelkraftarmes die in Richtung der Sehne wirkende Muskel-Dehnungsspannung [N] berechnen (Abb.2, links).

 

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  Abb. 3: Aufbau des Muskels, schrittweise Vergrößerung vom kompletten Muskel (Durchmesser ~ 0,03 m) bis zum Sarkomer (mittlere Länge: 0,000002,8 m = 2,8 µm)

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3. Bau des Muskels und des Sarkomers
Der fleischige Anteil eines Muskels besteht aus mehreren hunderttausend Muskelfasern (Abb. 3) von je bis zu 1mm Dicke und bis zu 15 cm Länge, die von der Ursprungssehne bis zur Ansatzsehne in Längsrichtung durch den Muskel ziehen. (Jede Muskelfaser wird von einer lockeren Bindegewebshülle (Endomysium) umgeben. Ebenso werden mehrere Muskelfasern vom Perimysium zu Muskelfaserbündeln zusammengefasst sowie der gesamte Muskel vom Epimysium umgeben). Jede Muskelfaser wiederum enthält mehrere hundert Myofibrillen, die – in durchschnittlich 2,8 µm lange Sarkomere gegliedert – in Längsrichtung durch die gesamte Muskelfaser ziehen. Ein Sarkomer, das bis zu 1µm (und mehr) dick und im Mittel 2,8µm lang ist, besteht aus den in Längsrichtung parallel verlaufenden 1,3 µm langen endständigen Aktinfilamenten (Abb. 4), die an den das Sarkomer begrenzenden Z-Scheiben verankert sind und in Richtung Sarkomermitte ragen, und aus den ebenfalls in Längsrichtung parallel verlaufenden, aber zentral angeordneten 1,6 µm langen Myosinfilamenten.
Von all den oben aufgeführten Angaben über die räumliche Ausdehnung sind nur die Längen der Aktin- und Myosinfilamente konstant. Alle anderen Größen (Länge und Dicke des Sarkomers, der Myofibrillen, der Muskelfasern und des Muskels) variieren entweder mit dem augenblicklichen Dehnungsgrad (d.h. mit der Gelenkwinkelstellung) und oder mit einem langfristig sich ändernden Trainingszustand.
Die Dehnung eines Muskels ist somit nur dadurch möglich, dass unter dem Einfluss der dehnenden Kraft die Aktin- und Myosinfilamente aneinander vorbei gleiten und auf diese Weise eine Ausdehnung des Sarkmers in Längsrichtung und damit eine Verlängerung des gesamten Muskels zulassen (Abb. 5). Zwar wird ein einzelnes Sarkomer aus einer mittleren Stellung (Abb.5, Phase b) maximal nur um etwa 40% verlängert (also auf etwa 3,9 µm), da in einer gesamten Muskelfaser von beispielsweise 10 cm Länge aber bis zu 30tausend Sarkomere in Serie hintereinander gekettet sind, ergibt dies eine Faserdehnung auf eine Länge von 14 cm.

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Abb. 4: Sarkomer. oben: elektronenmikroskopische Aufnahme; darunter: schematische Darstellung der Aktin- und Myosinfilamente.

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4. Quellen der Muskelelastizität
Die Quellen der Viscoelastizität des passiven Muskels liegen in den Titinfilamenten, die von den Z-Scheiben in Richtung Sarkomermitte ziehen und an den Myosinfilamenten angeheftet sind (Abb. 5 b-d und Abb. 6b). Im Abschnitt zwischen den Z-Scheiben und dem freien Ende des Myosinfilamentes besitzen sie einen hochelastischen Abschnitt, der – im passiven, unerregten Muskel – die Myosinfilamente nach einer Dehnung (= Vergrößerung der Gelenkreichweite) wieder in Richtung Z-Scheibe ziehen, bis das Sarkomer eine mittlere Ruhelänge (Filament-Überlappungsgrad = 100%; Abb. 5 b und Abb. 6b, unten) erreicht hat: Die Ruhespannung strebt gegen Null. Wird aus dieser Position die Gelenkreichweite weiter verringert, zieht sich der passive Muskel nicht weiter zusammen, sondern „hängt durch“ (s. besonders zweigelenkige Muskeln, z.B. M. biceps brachii, ischiokrurale Muskeln).  

Somit stellen allein die Titinfilamente (zumindest im Rahmen eines physiologischen Dehnungsbereiches) die Quellen der Dehnungsspannung des unerregten (passiven, ruhenden) Muskels dar (deshalb auch: „Ruhespannung“, „passive Spannung“, „Ruhedehnungsspannung“). Da der Grad des elastische Widerstandes (die Elastizitätskonstante) eines jeden Titinmoleküls als stabil anzunehmen ist, kann sich der elastische Widerstand eines Sarkomers, einer Muskelfaser und eines Muskels nur mit der Anzahl der parallel geschalteten Titinfilamente verändern. Das bedeutet, dass eine langfristige Zunahme der Ruhespannung generell mit einer Hypertrophie des Sarkomers, der Muskelfaser bzw. des Muskels korreliert.

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Abb. 5: Schematische Darstellung unterschiedlicher Sarkomer-Dehnungszustände

Derjenige Dehnungsgrad, bei dem der elastische Widerstand der Titinfilamente gegen Null strebt (passiver Erschlaffungspunkt, passive slack length), liegt etwa zwischen 90% und 100% Mediallänge, also bei einer Sarkomerlänge von 2,7 – 2,8 µm (Abb. 5, b). Allerdings sind hierzu keine genauen Befunde zu finden; denn offensichtlich können die Titinfilamente unter dem Einfluss von Ca2+-Ionen ihren viscoelastischen Widerstand verändern (z.B. Tatsumi u.a. 2001, s. Literaturliste Muskelverkürzung). Den Spannungszustand eines Muskels unterhalb des passiven Erschlaffungspunktes lässt sich am eigenen Körper testen: Sitzt man vorgebeugt an einem Tisch und legt die Ellenbogen vor sich derart auf die Tischplatte, dass die Unterarme parallel neben einander liegen (Fingerspitzen der linken Hand unter dem rechten Oberarm), lässt sich mit den Fingerspitzen der linken Hand der Erschlaffungszustand des „leicht durchhängenden“ rechten Bizeps (M. biceps brachii) erfühlen. Ein aktives Anspannen des Bizeps in dieser Stellung zeigt, dass der aktive Erschlaffungspunkt (active slack length, < 60% Mediallänge, 1 µm – 1,3 µm Sarkomerlänge) noch nicht unterschritten ist.

 

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5. Kontraktionsspannung = „Kraft“
Gegenüber der passiven Muskelspannung (Ruhespannung, Dehnungsspannung) wird die aktive Muskelspannung (Kontraktionsspannung) erzeugt, wenn sich auf Grund einer Erregung durch die motorischen Nervenzellen (Motoneurone) die Köpfchen der Myosinfilamente an den Aktinfilamenten anheften (Querbrückenbildung) und durch wechselnde „Nickbewegungen“ sich an den Aktinfilamenten entlang in Richtung Z-Scheiben hangeln (Abb. 6a). Dadurch werden die Myosinfilamente in Richtung Z-Scheibe bewegt, und das Sarkomer (bzw. die gesamte Muskelfaser) verkürzt sich (konzentrische Kontraktion), es wird entdehnt.
Auch der kontrahierende Muskel kann durch äußere Kräfte gedehnt werden. Wenn die dehnende Kraft höher wird als die augenblickliche Kontraktionskraft, muss der Muskel nachgeben, die Muskelfasern (und die Sarkomere) werden in die Länge gezogen (= exzentrische Kontraktion). Halten sich Kontraktionskraft und äußere dehnende Kraft die Waage, bleibt der Dehnungsgrad des Muskels konstant (= isometrische Kontraktion).

Damit wird deutlich, dass der Begriff „Kontraktion“ sich stets auf das Bestreben des aktivierten Muskels (Sarkomers, Muskelfaser)
bezieht, sich zusammenzuziehen (zu entdehnen), – unabhängig davon, ob ihm dies gelingt (= „konzentrische Kontraktion“, ~ zum Körperzentrum hin) oder ob er aufgrund zu hoher äußerer Lasten statt dessen entgegen seinen Kontraktionsbemühungen in die Länge gezogen wird („exzentrische Kontraktion“, ~ vom Körperzentrum weg) oder ob er der äußeren Last die Waage hält (= „isometrische Kontraktion“). Selbstverständlich kann im Laufe koordinierter Bewegungen die Kontraktionskraft so auf äußere Kräfte abgestimmt werden, dass willkürliche exzentrische Aktionen angestrebt werden wie etwa im Laufe von Counter-Movement-Sprüngen, in deren Verlauf eine exzentrische Kontraktion eine Aushohlbewegung abbremst und über einen kurzfristigen isometrischen Zustand in die konzentrische Aktion der Sprungbeschleunigung übergeht.

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Abb. 6:
Schematische Darstellung der Sarkomer-Entdehnung. a) aktive Entdehnung (= Kontraktion) durch „Querbrückenbildung“  b) passive Entdehnung durch die elastischen Rückstellkräfte des Titins

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6. Optimallänge des Muskels
Der Muskel (das Sarkomer) kann nicht in allen Dehnungszuständen die gleiche Kontraktionskraft erzeugen. Überlappen sich die Aktin- und Myosinfilamente optimal (Abb. 5b), kann eine maximale Anzahl von Myosinköpfen am Aktinfilament Querbrücken ausbilden, so dass der Muskel (das Sarkomer) in diesem Dehnungszustand seine Maximalkraft erzeugen kann (Abb. 7). Wird der Muskel aus dieser „Optimallänge“ (auch: „Mediallänge“) weiter gedehnt, verliert ein zunehmender Prozentsatz der Myosinköpfchen den Kontakt am Aktinfilament (Abb. 5c), so dass die Kontraktionskraft, die der Muskel (das Sarkomer) erzeugen kann, mit zunehmender Dehnung abnimmt (Abb. 7).

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 Abb. 7: Kraft-Dehnungsdiagramme. Links: Theoretisches Kraft-Dehnungsdiagramm eines Sarkomers (verändert nach: WALKER u.SCHRODT 1973; HERZOG et al. 1992). Rechts: Kraft-Dehnungsdiagramm der ischiokruralen Muskeln (schwarze Kurve), gewonnen an einer biomechanischen Versuchsstation in 8 unterschiedlichen Dehnungszuständen, Mittelwert von 14 Vpn. (verändert nach Wiemann 1995). Rote Kurve: Kraft-Dehnungsverlauf eines gegenüber dem Mittelwert verkürzten Muskels. Grüne Kurve:  Kraft-Dehnungsverlauf eines gegenüber dem Mittelwert verlängerten Muskels

Eine entsprechende Abnahme der Kontraktionskraft tritt auf, wenn der Muskel bzw. das Sarkomer zunehmend entdehnt wird (Abb. 7), bis sich die Myosinfilamente letztendlich an den Z-Scheiben stauen (Abb. 5a).

Diejenige Sarkomerlänge, bei der der Muskel nicht mehr in der Lage ist, Kontraktionskraft nach außen abzugeben, liegt bei etwa 1,3 µm (Abb. 7). Der aktive Erschlaffungspunkt (active slack length) liegt somit noch unterhalb des passiven Erschlaffungspunktes (s.o.).

Es ist anzunehmen, dass die optimale Filamentüberlappung bei jedem einzelnen Muskel in demjenigen Gelenkwinkelbereich anzutreffen ist, in dem dieser Muskel seine tägliche Kontraktionsarbeit zu erledigen hat. Wird ein Muskel gezwungen, über längere Zeit diese Kontraktionsarbeit in einer gedehnteren Position zu vollbringen, ist damit zu rechnen, dass durch intramuskuläre Wachstumsprozesse die Optimallänge in diesen Bereich verlagert wird: der Muskel erhöht seine Optimallänge bzw. Mediallänge, er wird länger (= „Muskelverlängerung“) – er erweitert seine „funktionelle Länge“. In entsprechender Weise ist auch eine funktionelle „Muskelverkürzung“, d.h., eine Verschiebung der Optimallänge in einen entdehnteren Bereich, zu erwarten, falls eine Veränderung der täglichen Arbeitsbedingungen dies erforderlich macht (Wiemann 1994).
Eine solche Anpassung der Optimallänge ist sowohl im Tierexperiment (z.B. Antonio et al. 1993) als auch im Krafttrainingsexperiment an Athleten ( z.B. Tsunoda et al. 1993) eindeutig nachgewiesen (Ausführliches dazu: Wiemann 1998). Allerdings fehlen beim Menschen eindeutige Befunde über eine Muskelverlängerung nach Dehntrainingsphasen. Statt dessen konnten an Hochleistungsturnern, die sich durch ein höchst intensives jahrelanges tägliches Dehntraining auszeichnen, keine Veränderung der Optimallänge der ischiokruralen Muskeln gegenüber Durchschnittssportlern festgestellt werden (Wieman/Leisner 1996).

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Abb. 8: Schematische Darstellung: Kraft-Dehnungskurven kurzer (schwarz bzw. oben) und langer (rot bzw. unten) Muskelfasern

7. Länge der Muskelfasern
Die Veränderung der Länge eines Muskels, (genauer: der Optimallänge) kann durch zwei wesentliche Faktoren erfolgen, durch eine Veränderung der Länge der Muskelfasern und / oder (zumindest bei Kindern und Jugendlichen) der Länge des sehnigen Anteils des Muskels. In Tierexperimenten ist z.B. die Muskelfaserverlängerung durch erzwungenes Dauerdehnen ausreichend untermauert (z.B. Alway et al. 1989, Holly et al. 1980, Tabary et al. 1972; s. Literat
urliste Wiemann 1994). Über den Einfluss unterschiedlicher Trainingsmaßnahmen auf die Faserlänge beim Menschen liegen erst einzelne Befunde vor. Dabei wurde gezeigt, dass unter bestimmten Trainingsbedingungen, z.B. Krafttraining vermehrt oder ausschließlich im gedehnten Bereich, eine Verlängerung der Muskelfasern (z.B.: Alegre u.a. 2006, Aquino u.a. 2010, Franchi u.a. 2014; s. Literaturliste Kap. „Muskelverkürzung„) erreicht werden konnte bzw. dass  bei einer vermehrten Kontraktionsarbeit ihn einem entdehnten Bereich sich eine Faserverkürzung entwickelte (Csapo u.a. 2010; s. Literaturliste Wiemann 1994) . Daraus kann auch gefolgert werden, dass ein Muskel, der über einen großen Sektor der Bewegungsreichweite eine  aktive Spannung (Kontraktionskraft) nahe dem Kraftmaximum produzieren kann (bzw. soll), längere Muskelfasern besitzt (bzw. besitzen muss, s. Abb. 8, rote Kurve) als ein homonymer Muskel unter ansonsten gleichen Bedingungen, der nur in einem eng umschriebenen Sektor eine maximale Kontraktionsspannung erzeugt ( s. Abb. 8, schwarze Kurve).
Weiterhin ist anzunehmen, dass bei längeren Muskelfasern (und sonst gleichen übrigen Bedingungen) die Maximalkraft bzw. die Situation der optimalen Filamentüberlappung in einer größeren Gelenkreichweite erreicht wird, als bei kürzeren Muskelfasern (Abb. 8; Wiemann 1994 und 1998).
Letztendlich ist auch zu vermuten, dass die passive Spannung (Ruhespannung) zumindest im höheren Dehnungsbereich mit der Faserlänge in einem Zusammenhang steht, d.h., dass ein Muskel mit längeren Fasern im gedehnten Bereich eine niedere Ruhespannung besitzt als ein homonymer Muskel bei sonst gleichen übrigen Bedingung mit kürzeren Fasern. Abb. 9 verdeutlicht die experimetell gesicherten (gelb) und aus Beobachtungen anzunehmenden (blau) Abhängigkeiten der muskulären Kennwerte und wie sie sich gegenseitig fördern (+) bzw. mindern (-).

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 Abb. 9: Kennwerte des Muskels und ihre nachgewiesenen (gelb) und anzunehmenden (blau) fördernden (+) und mindernden (-) Abhängigkeiten.

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Literatur zu den biologischen Grundlagen der Dehnfähigkeit und des Dehnens siehe:

1. Wiemann, K.: Stretching – Grundlagen, Möglichkeiten, Grenze. Aus: Sportunterricht 42 (1993) 3: 91 [download]

2. Wiemann, K. / Klee, A. / Stratmann, M.: Filamentäre Quellen der Muskel-Ruhespannung und die Behandlung muskulärer Dysbalancen. In: Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, 44 (1998), Heft 4, S. 111 – 118 [download]. Siehe auch Power-Point-Präsentation : Arthromuskuläre Balance und aufrechte Haltung. – Haben auch Dehnübungen einen Einfluss auf muskuläre Dysbalancen?

3. A. Klee, K. Wiemann: Biologische Grundlagen der Flexibilität. (19. Sportmedizinisches/Sportwissenschaftliches Seminar in Landau, 08.11.2003) (aus: http://www.sportbund-pfalz.de/downloads.html?file=tl_files/Ablage/…) bzw. [download]

4. Klee, A. / Wiemann, K. (2004): Biologische Grundlagen zur Wirkung der Muskeldehnung. In: Cachey, K. / Halle, A. / Teubert, H. (Hrsg.): Sport ist Spitze. Reader zum Sportgespräch / 18. Internationaler Workshop am 16. und 17. Juni 2003 in Oberhausen. Aachen: Meyer &Meyer, S. 88 – 102. [download]

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